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Edzard Reuter, Sohn von Ernst Reuter, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, und Michael Müller beim Auftakt der Gedenkfeier.

© Christoph Soeder/dpa

70 Jahre Reuter-Rede: Ernst Reuter ging es um die Berliner – und um die Welt

Vor 70 Jahren hielt Ernst Reuter seine berühmteste Rede. Das haben Frank-Walter Steinmeier und Michael Müller am Sonntag gewürdigt. Ihre Reden im Wortlaut.

Es gibt Reden, die die Welt bewegen. Am 9. September 1948 wurde eine solche Rede gehalten, in Berlin, vor dem teilweise zerstörten Gebäude des Reichstages. Der Mann, der dort vor mehr als 300.000 Berlinerinnen und Berlinern seine Hoffnung auf Freiheit an die Völker der Welt adressierte, war Ernst Reuter, SPD-Politiker, Bürgermeister Berlins. Es war diese Rede, die die drei westlichen Alliierten davon überzeugte, dass sie die Luftbrücke zur Überwindung der sowjetischen Blockade West-Berlins aufrecht erhalten mussten. Am Jahrestag der Ansprache, am vergangenen Sonntag, gedachten der regierende Bürgermeister, Michael Müller, und der Bundespräsident, Frank-Walter Steinmeier, des denkwürdigen Geschehens vor 70 Jahren. Wir dokumentieren beide Reden im Wortlaut.

Rede von Michael Müller:

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrter Herr Präsident des Abgeordnetenhauses, sehr geehrte Abgeordnete, Ehrengäste, liebe Frau Reuter, lieber Edzard Reuter, meine Damen und Herren, herzlich willkommen!

Das Jahr 2018 hält eine Vielzahl bedeutender Gedenkanlässe bereit:

·      die Revolution von 1848,

·      das Ende des Ersten Weltkriegs 1918,

·      das Jahr 1938 mit den Novemberpogromen,

·      und natürlich „1968“, das Jahr der Studenten-Unruhen des „Prager Frühlings“ und seiner Niederschlagung – ein Datum geteilter Erinnerungen in Ost und West.

·      Ein weiterer Gedenkanlass, der zwar nicht rund ist, dafür aus Berliner Sicht besonders wichtig: Der „Tag der Deutschen Einheit“, den Berlin in diesem Jahr erstmals, länger ohne Mauer als mit Mauer: 28 Jahre, Tag feiern und leben,  ausrichtet.

All diese Ereignisse haben für Berlin eine große Bedeutung. Das gilt auch für ein Jahr, das ein wenig im Schatten der genannten Gedenkanlässe steht: Ich meine das Jahr 1948, in dem sich der Ost-West-Gegensatz endgültig zum Kalten Krieg zuspitzte. Anlass war die Blockade West-Berlins durch die Sowjetunion, die die faktische Existenzgarantie der Teilstadt durch die West-Alliierten zur Folge hatte.

Wir gedenken jedes Jahr am 12.05. feierlich im Luftbrückendenkmal in Tempelhof der Beendigung der Blockade, so dass der runde Gedenkanlass erst im nächsten Jahr ansteht. Dafür planen wir natürlich eine Gedenkfeier mit ehemaligen Alliierten, Veteranen und den Berlinerinnen und Berlinern.

Aber eines dürfen wir nicht vergessen und darum sind wir heute zusammengekommen:

Heute vor 70 Jahren, am 9. September 1948, hielt Ernst Reuter auf den Stufen der Reichstagsruine vor 300.000 Berlinerinnen und Berlinern seine berühmte Rede. Sie wurde zu einem Symbol des Selbstbehauptungswillens Berlins in Zeiten des Kalten Krieges.

Meine Damen und Herren, über einem Redemanuskript steht oft: „Es gilt das gesprochene Wort“. Damit wird der Freiheit des Redners Rechnung getragen, vom Manuskript abzuweichen.

Für Ernst Reuters Rede gilt dieser Hinweis in besonderer Weise. Denn sie entfaltet ihre bis heute ungebrochene Wirkung eben als gesprochenes Wort. Aber was heißt hier „gesprochen“?

Ernst Reuter deklamiert wie ein großer Tragöde, seine Stimme klingt laut und dramatisch, jede Silbe überdeutlich, um äußerste Dringlichkeit zu vermitteln. Und sicher auch, um von den Tausenden gehört und verstanden zu werden. Aber diese Leidenschaft, diese äußerste Bewegtheit des Redners: Sie entsteht aus der verzweifelten Situation, in der sich West-Berlin während der Blockade befand. Und zugleich ist sie Ausdruck einer Verschmelzung des Redners mit seinem Publikum.

Wenn man heute diese Ton-Aufnahme hört, dann spürt man, dass die Berlinerinnen und Berliner geradezu an Ernst Reuters Lippen hingen. Und man glaubt: Das spürt auch Reuter selbst, dessen Stimme sich immer mal wieder überschlägt. Er wird zum Sprachrohr der Menschen in der abgeriegelten und vom Krieg noch weitgehend zerstörten Stadt. Jedes Wort, jeder Satz drückt die Empfindungen der Berlinerinnen und Berliner aus: Ihre Angst, ihre Verzweiflung, ihren ungebrochenen Überlebenswillen.

Ernst Reuter spricht nicht zu den Menschen. Ernst Reuter aber spricht für sein Publikum – er spricht den Menschen aus der Seele. Seine Rede an die „Völker der Welt“ erhält ihre enorme Wucht, weil jeder, der zuhört spürt: Hier spricht in höchster Not einer für alle – für zwei Millionen Menschen im abgeriegelten West-Berlin.

So entsteht ein weltgeschichtlicher Moment!

Zugleich wird auch deutlich, dass hier eine neue Stimme aus der Mitte Berlins zu vernehmen ist.

Wenige Jahre zuvor hatten die Nazis von Berlin aus ihre widerwärtigen Hassparolen über den Äther gebrüllt. Und damit nicht nur Angst und Schrecken verbreitet, sondern auch ein Bild deutscher Politiker geprägt und diskreditiert, die vorgeben, im Namen des Volkes zu sprechen.

Im Namen des Volkes zu sprechen.

Das tut auch Ernst Reuter. Aber seine Rolle ist nicht die des Einpeitschers. Er spricht nicht wie die Nazi-Größen entrückt von oben herab. Ernst Reuter spricht frei von Hass. Seine Stimme kommt aus der Mitte des Volkes, direkt aus dessen Herz. Aufrechtes Mitfühlen und ehrliche Verzweiflung bestimmen die Tonlage. Seine Glaubwürdigkeit verdankt sich auch dem Umstand, dass er ein entschiedener Nazi-Gegner war, der Gewalt erleiden musste, ins Konzentrationslager gesperrt wurde, bis er 1935 emigrieren konnte.

Dass sich die Menschen im Westteil der Stadt nicht aufgeben und deshalb von der Völkergemeinschaft nicht aufgegeben werden dürfen: Diese Botschaft enthält nicht nur die Rede, sie durchzieht Ernst Reuters gesamtes politisches Handeln.

Nach dem Krieg war er aus dem türkischen Exil ins zerstörte Berlin zurückgekehrt. Im Magistrat übernahm er zunächst das Amt des Verkehrsdezernenten. Und damit eine Schlüsselrolle beim Wiederaufbau der in weiten Teilen nicht mehr funktionierenden Infrastruktur. Für diese Aufgabe war Ernst Reuter ein ausgewiesener Experte. Bereits in den 20er Jahren sorgte er als Verkehrsstadtrat für die Fusion der Hoch- und Untergrundbahnen, der Straßenbahnen und Busse: So schuf er ein modernes und leistungsfähiges Unternehmen, die "Berliner Verkehrs-Aktien-Gesellschaft" (BVG) – damals das größte Nahverkehrsunternehmen der Welt.

Seine profunden Erfahrungen als Kommunalpolitiker und seine Expertise im Bereich von Stadtplanung und Städtebau gab er während der Zeit des Exils an Studierende in Ankara weiter. So legte er das Fundament für vielfältige fruchtbare deutsch-türkische Beziehungen bis in unsere heutige Zeit hinein.

Ja, Ernst Reuter prägte wie kaum ein anderer die Berliner Nachkriegspolitik. Er hat sein Leben lang für die Freiheit und für die Demokratie gekämpft.

Er war ein Mutmacher in ernster Lage, ein streitbarer Demokrat und Vorkämpfer für die Freiheit. Und als solcher der sowjetischen Besatzungsmacht ein Dorn im Auge. Deshalb hatte sie im Juni 1947 ihr Veto gegen die Wahl Ernst Reuters zum Berliner Oberbürgermeister eingelegt.

Ernst Reuter hatte erkannt, dass die Sowjets darauf aus waren, die West-Alliierten aus der Stadt zu drängen, um sich auch West-Berlin einzuverleiben. Nach dem einseitigen Befehl der Sowjetunion, die Ost-Mark einzuführen, kämpfte Ernst Reuter gegen viele Widerstände auch aus den eigenen Reihen erfolgreich dafür, die D-Mark in West-Berlin einzuführen. Das war ein Auslöser für die sowjetische Blockade West-Berlins.

Plötzlich waren Berlins Lebensadern abgeschnitten. Und für die Berlinerinnen und Berliner war im Frühjahr 1948 keineswegs klar, dass sie auf die Solidarität der Westmächte zählen konnten. Die waren damals vor allem Besatzungsmacht. Dass sich ihre Rolle in der Krise wandelte, dass sie zu Schutzmächten und Freunden des freien West-Berlins wurden, war auch Ernst Reuters Verdienst. Ihm gelang es gemeinsam mit General Clay, bei den Alliierten zu erwirken, West-Berlin um keinen Preis aufzugeben. Das Ergebnis war die Luftbrücke.

Aber Reuter geht in seiner Rede weit über die kurzfristige Rettung Berlins hinaus. Er vermittelt seinen festen Glauben, dass eines Tages Diktatur und Unfreiheit überwunden sein werden und Europa frei und friedlich vereint sei. So geschah es nach 1989.

Aus damaliger Sicht erscheint diese Vorstellung visionär, vielleicht illusionär. Aber sie entsprach Ernst Reuters tiefster Überzeugung. Ein freies und demokratisches Deutschland, ein in Frieden und Freiheit vereintes Europa waren der Antrieb seines politischen Wirkens.

Dass tief empfundene Überzeugungen Berge versetzen können, wenn sie Leitlinie des politischen Denkens und Handelns werden, das können wir heute von Ernst Reuter lernen.

Deshalb hält das Gedenken seiner großen Rede vom 9. September 1948 für uns eine Ermutigung bereit. Wir müssen für unsere westlichen Werte und das vereinte, offene und friedliche Europa kämpfen – erst recht, wenn es durch populistische Kräfte starken Gegenwind gibt.

Ihnen allen wünsche ich eine anregende Veranstaltung, meine Damen und Herren, auch unter schwierigsten Bedingungen für eigene Überzeugungen eintreten, für Frieden und Freiheit und Menschen mit ihren Sorgen und Ängsten eine Stimme geben, das ist das Vermächtnis dieses großen Berliner Bürgermeisters.

Rede von Frank-Walter Steinmeier:

Mitunter macht der Einzelne den Unterschied. Helmut Schmidt hat das einmal über Ernst Reuter gesagt. Überträgt man seinen kargen norddeutschen Satz in eine etwas weniger unterkühlte Berliner Diktion, würde man sagen: Manchmal schreibt ein einzelner Mensch, Mann oder Frau, Geschichte.

Ernst Reuter hat das zweifellos getan, als er heute vor 70 Jahren auf den Stufen des Reichstages zu den Berlinern sprach.

Genauer gesagt sprach er vor und von den Berlinern, weniger zu ihnen. Die Adressaten seiner Rede waren Amerikaner, Briten, Franzosen, Italiener, ja, auch Russen. Es waren die Völker vor allem der westlichen Welt, zu denen Ernst Reuter sprach, die er aufrief, an die er appellierte. Er packte sie bei dem, was ihnen allen gemeinsam ist, bei ihrem allgemein menschlichen Verlangen, in Freiheit leben zu wollen.

Und, meine Damen und Herren, damit sprach Ernst Reuter zu uns allen, auch zu uns Nachgeborenen.

Was er sagte, war mutig! Nur drei Jahre nach Kriegsende forderte ein deutscher Politiker die Weltgemeinschaft auf, die Berliner, mehr noch, die Deutschen nicht preiszugeben, sich an ihre Seite zu stellen, ihre Freiheit zu verteidigen.

Nur wenige Jahre lag die Naziherrschaft zurück, die Europa in Unfreiheit gestürzt hatte.

Die Zerstörung der Weimarer Demokratie, Machtergreifung, Willkür und Verfolgung, Folter und Mord, der Überfall auf Polen, Vernichtung, millionenfacher Mord an den europäischen Juden, am Ende Verwüstung des ganzen Landes. All das war den Deutschen nur zu gut in Erinnerung, den Adressaten der Rede, dem Redner und vor allem den Berlinern, die ihm zuhörten. Wie hätten sie auch vergessen können, was hinter ihnen lag, vor dieser Kulisse, vor dem zerschossenen Reichstag, dieser letzten Station ihres Irrwegs?

Zugleich war es die Bedrohung durch die stalinistische Gewaltherrschaft, die allen vor Augen stand und die auf Berlin wie auf keiner anderen Stadt lastete.

Helmut Schmidt hatte recht: Mitunter macht ein einzelner Mensch den Unterschied. Es war Ernst Reuter, der in dieser Situation und vor dieser Kulisse für die Berliner, für die Deutschen sprach. Ein Einzelner in einem Meer von Hunderttausenden zerlumpten, hungernden Berlinern, ein Mensch und Politiker, dessen Integrität über jeden Zweifel erhaben war – Reuter machte den Unterschied!

Wer von Ihnen die Bilder dieses 9. September 1948 im Foyer betrachtet hat, der hat eine Gegenwart gesehen, die nichts als Elend und Zerstörung kannte. Doch wer sich dazu die Stimme Ernst Reuters ins Gedächtnis ruft, der begreift noch heute, dass diese Nachkriegsgegenwart nichts als Zukunft wollte: Neubeginn! Reuter kannte diese Zukunft so wenig wie die Menschen, die ihm zuhörten. Aber er hatte die Kraft, sie zu beschwören.

Er wusste, was er wollte. Er kannte seine Mittel und er kannte die weltpolitischen Akteure – wie wohl kein zweiter deutscher Politiker seiner Zeit. Er hatte den heraufziehenden Konflikt zwischen den ehemaligen Alliierten schon 1946 im türkischen Exil wahrgenommen.  Er ahnte, dass die Machtprobe zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion die deutschen Geschicke bestimmen würde, und er wusste 1948 in Berlin, dass die Demarkationslinie zwischen dem sowjetisch beherrschten Osten und dem amerikanisch kontrollierten Westen Deutschlands auf absehbare Zeit bestehen bleiben würde.

„Die Spaltung Deutschlands wird nicht geschaffen, sie ist schon vorhanden“, erklärte Reuter den Ministerpräsidenten der Länder im Sommer 1948. Sie sollten nicht länger zögern, die Gründung eines eigenen westdeutschen Staates in Angriff zu nehmen. Reuter wünschte sich diesen Schritt, den viele, auch in seiner eigenen Partei, scheuten. Sie fürchteten, mit der politischen und ökonomischen Konsolidierung eines Weststaates werde die Teilung Deutschlands auch de jure vollzogen.

Reuter dagegen sah in dem politischen und ökonomischen Neustart, wie er sagte, „die elementare Voraussetzung für eine Gesundung der Verhältnisse“, im Westteil wie im Ostteil Deutschlands. Ein Gelingen dieses Neustarts vorausgesetzt, würde die Rückkehr des Ostens zum „gemeinsamen Mutterland“ eine Frage der Zeit sein.

Reuter wird geahnt haben, dass diese Zeit lang, sehr lang werden würde. Und doch war er überzeugt, das Richtige zu tun.

Der Einzelne kann einen Unterschied machen. Reuter machte ihn, auch hier. Er widersprach den engsten Weggefährten und Parteifreunden, Louise Schröder, der amtierenden Oberbürgermeisterin von Berlin, und auch Carlo Schmid, damals stellvertretender Staatspräsident von Württemberg-Hohenzollern und später Vorsitzender des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates. Beide hatten vor vollendeten Tatsachen gewarnt.

Ernst Reuter wollte die staatliche Souveränität, weil sie die Voraussetzung für einen demokratischen Neubeginn, für die politische Zukunft Deutschlands war. Es war sein Mut, der den Unterschied machte: Ernst Reuters Mut zur Demokratie. Damit war er einer der wichtigsten Wegbereiter des Grundgesetzes.

Gleichwohl wusste er, dass eine Demokratie nicht allein mit der Annahme der Verfassung etabliert wird. Ehe aus den Deutschen, die nun eine wunderbare Verfassung hätten, Demokraten würden, werde in Berlin und Bonn noch einiges Wasser die Spree und den Rhein hinunterlaufen, erklärte er 1950. Der „Regenerationsprozess“, der den Deutschen bevorstand, war nicht mit der Annahme des Grundgesetzes erledigt.

Reuters Stichwort hieß Aufbau – und blieb es lebenslang. Als Volkskommissar in der Wolgarepublik, als Kommunalpolitiker in den Notjahren der Weimarer Republik und im türkischen Exil und schließlich als Bürgermeister bei der Bewältigung der Berliner Blockade – Reuter verstand es, Kräfte freizusetzen. Er war überzeugt von der bindenden, der integrativen Kraft einer gemeinschaftlichen Anstrengung ebenso wie von den kreativen Kräften, die sie freisetzen kann.

Das, so glaube ich, verstand Ernst Reuter unter Aufbauarbeit. Und die leistete er nicht zuletzt für die Demokratie in Deutschland.

Es war die Summe seiner politischen Erfahrungen, in Russland, in der Türkei und in Deutschland, die ihn zu einem überzeugten und überzeugenden Demokraten werden ließ. Er wollte ein lebendiges politisches Bewusstsein in den Deutschen wecken. Eine Demokratie verlange mehr als die wiederkehrende Beteiligung an Wahlen, erklärte er seinen Berliner Parteifreunden. Sie sei nur da vorhanden, wo innerhalb eines Volkes eine Gruppe unerschütterlich dafür einstehe, „daß der Gedanke der Freiheit niemals ausgerottet werden kann.“

Unabhängigkeit, Toleranz und Achtung vor der Überzeugung und den Werten des politischen Gegners hielt Reuter für „selbstverständliche Formen öffentlichen Lebens, wie sie in einer freien Gesellschaft erwartet werden“. Unerschrockenheit im Denken und Handeln waren für ihn „Folgen einer freiheitlichen Erziehung“.

Es sind demokratische Tugenden, wie Reuter selbst sie an jedem Ort, an jeder Station seiner Biographie angefochten und umkämpft erlebt hatte: in der Weimarer Republik unter dem Druck der Demokratiefeindschaft, in der Türkei unter dem autoritären Regime Atatürks, vor allem aber in den Jahren der russischen Revolution und des Bürgerkrieges an der Wolga. Doch überall dort, wo sich Menschen gegen Fanatismus und Unterdrückung zur Wehr setzen, um ein Leben in Würde zu führen, sind Spuren dieser demokratischen Tugenden zu finden. Reuter ist ihnen gefolgt.

Und es war kein Zufall, dass Ernst Reuter zeit seines Lebens ein leidenschaftlicher Kommunalpolitiker war. Für ihn war die kommunale Selbstverwaltung Basis und Schule der Demokratie. Die Voraussetzung für Selbstbestimmung aber heißt Freiheit. Zwang pervertiert jedes Ideal zur Unkenntlichkeit – das war die eindrücklichste und nachhaltigste seiner Lebenslektionen.

Ich glaube, dass ich heute sagen darf: Seine Lektionen sind unserem Land in Fleisch und Blut übergegangen. Aus einem Deutschland, von dem zu Reuters Lebzeiten Verfolgung und Gewalt ausgegangen war, ist ein Land geworden, das für viele politisch verfolgte Menschen ein Ort der Hoffnung ist. Ich finde, das ist eine erstaunliche, eine beglückende Entwicklung. Vor über acht Jahrzehnten floh Ernst Reuter vor politischer Verfolgung in Deutschland und fand Zuflucht in der Türkei. Heute sind es nicht wenige, die vor politischen Repressalien in der Türkei Schutz in Deutschland finden. Die größte Zahl kam auf der Suche nach Arbeit und Wohlstand, andere in der Hoffnung auf Sicherheit und Schutz. Heute sind es fast drei Millionen türkischstämmige Menschen, die hier in Deutschland ein Zuhause, und vor allem ein Land mit Rechtsstaat und Freiheit, haben. Ich glaube, Ernst Reuter wäre froh darüber.

Von Ernst Reuter können wir erfahren, wo Unfreiheit beginnt und wie man die Freiheit gegen ihre Verächter verteidigt. Wir können von ihm lernen, dass Heimat die Faszination für das Andere, das Fremde nicht ausschließt, sondern dass beides einander bedingt. Es sind wichtige Lektionen auch für die Gegenwart.

Ernst Reuter war ein unerschrockener Wegbereiter der Demokratie in Deutschland. Er hat die Freiheit gesucht, sie lieben gelernt und für sie gekämpft. Sein Mut und seine Liebe zur Freiheit – sie bleiben unvergessen, sie bleiben uns Vorbild und Ansporn.

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