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Wanderung nach Westen. Neben Irland ist Großbritannien für hunderttausende Polen schon seit 2004 zum wichtigsten Anziehungspunkt in der EU geworden. Viele von ihnen fanden Arbeit auf dem Bau – bevor die Wirtschaftskrise kam. Foto: laif

© John HARRIS/REPORT DIGITAL-REA/l

Abeitnehmerfreizügigkeit in Großbritannien: Viele kamen, nicht alle sind geblieben

Britischer Arbeitsmarkt ist schon seit 2004 offen. Für Polen ist das Abwandern von Facharbeitern ein Problem.

Bereits im Mai 2004 wurde in Großbritannien eine weitgehende Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus den damaligen acht mittel- und osteuropäischen EU-Beitrittsstaaten eingeführt. Die Folge: Vor allem Polen kamen zu Hunderttausenden ins Vereinigte Königreich. Bis Ende 2009 ließen sich über eine Million Polen als Arbeitssuchende registrieren.

Viele von den Polen, die damals nach Großbritannien kamen, sind inzwischen wieder gegangen – wegen der Rezession oder weil sie in England nicht zurechtkamen. Doch viele blieben. Sie füllen nun die katholischen Kirchen auf der Insel und helfen auch, Großbritannien zu verjüngen. 2009 sind in England und Wales 18 000 Kinder polnischer Eltern geboren worden und durch Geburt britische Staatsbürger geworden.

Bei den Polen, die trotz der Wirtschaftskrise in Großbritannien geblieben sind, handelt es sich um alles andere als um Kostgänger des Sozialstaats. Als Londons Regierungschef David Cameron unlängst gegen Einwanderer vom Leder zog, die die Integration verweigerten, da hatte er nicht polnische Mitbürger im Sinn. In Großbritannien arbeiten 84,7 Prozent der Polen im Arbeitsalter zwischen 16 und 64 Jahren, während es in der britischen Gesamtbevölkerung nur 70,5 Prozent sind. Die Polen in Großbritannien arbeiten nicht nur als Lohnarbeiter – viele sind Hochschulabsolventen mit ambitionierten Lebensplänen. In London verfügen sie sogar über eine eigene Lobbygruppe – die „Polish professionals in London“.

In Polen blieb die Ausreisewelle unterdessen nicht folgenlos. Ab 2006 machte sich im Land ein Facharbeitermangel schmerzhaft bemerkbar. Polen musste die größte Auswanderungswelle seit 1989 verkraften, und deshalb beriefen die Nationalbank, die Statistikbehörde und das nationale Arbeitsamt im Sommer 2006 eiligst eine Migrationsexpertenkommission ins Leben. Nachdem sich lange in Polen niemand wegen der Öffnung des britischen Arbeitsmarktes Sorgen gemacht hatte, wurde in der Presse zwei Jahre nach der EU-Erweiterung auf einmal fast täglich über die negativen Folgen der Arbeitnehmerfreizügigkeit berichtet. So mussten in Krankenhäusern Operationen verschoben werden, weil keine Anästhesisten mehr zur Verfügung standen.

Ende Juni 2006 fehlten in Polen bereits über 60 000 Krankenschwestern. Der Mangel an qualifizierten Handwerkern und Bauarbeitern trieb zuerst die Löhne, dann auch die Preise in die Höhe; viele Polen konnten sich keine Umbauarbeiten mehr leisten. Abhilfe schafften zwar zehntausende meist illegal arbeitende Ukrainer, doch auch für sie galten verstärkt Einreisebeschränkungen. Und so konnte in Polen der Bedarf bei Weitem nicht mit billigen Arbeitskräften aus dem Osten gedeckt werden. Nicht zuletzt deshalb gewannen 2010 erstmals chinesische Firmen große öffentliche Bauausschreibungen.

Heute hat das Warschauer Arbeitsministerium seine Lehren aus der damaligen Abwanderungswelle gezogen: Anstelle einer Schätzung, die sich angesichts der tatsächlichen Abwanderung arbeitssuchender Polen als zu niedrig erweist, geht man von einer hohen Zahl von Migrationswilligen aus, die es nach Deutschland ziehen könnte. Die Rede ist diesmal von rund einer halben Million Polen, die über kurz oder lang den Weg in das Nachbarland suchen könnten. Und wieder geht in Polen die begründete Angst vor dem Facharbeitermangel um.

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