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Politik: Abschied am Geburtstag

Als Bodo Hombach seinen Mentor an dessen 75. besuchte, sagte Johannes Rau: „Es geht zu Ende“

„Ich benötige keinen Grabstein, aber wenn Ihr einen für mich benötigt, wünschte ich, es stünde drauf: Er hat Vorschläge gemacht. Wir haben sie angenommen. Durch eine solche Inschrift wären wir alle geehrt.“

Johannes Rau, der so Belesene mit phänomenalem Gedächtnis besonders für Anekdotisches und Amüsantes, das Lebensweisheit trägt, wird diese Sätze von Bertolt Brecht gekannt haben. Sie werden ihm gefallen haben. Nie hätte er sie, auf sich selbst bezogen, ausgesprochen. Er hätte längst nicht alles gesagt, was er dachte. Zeichen hat er schon gegeben. Meist aber hat er ihrer Deutung die Eindeutigkeit, das Polarisierende genommen. Wir werden noch viel von ihm lernen können. Es gibt vieles zu entschlüsseln und wegen seiner visionären Kraft zu bestaunen. An und durch Johannes Rau können wir für uns selbst noch eine Menge entdecken. Er hat seine Botschaften nicht nur in Formulierungen, sondern auch in Fotos, Gesten und beispielhaftem Tun hinterlassen. Er konnte das. Er war kein Medienmensch, wie man es heute versteht, aber er konnte sich mit und in jedem Medium ausdrücken. Keiner konnte Anekdoten, selbst Witze jeder Sorte so treffend platzieren wie er. Sein Repertoire war so unerschöpflich wie das Wissen um die Details aus Lebensumständen so vieler, die ihn interessierten. Wer die Nachrufe auf diesen großen Humanisten, Christen und Menschenfischer liest, fragt sich: Wie konnte so einer sein Leben lang Politiker sein, sogar einer der erfolgreichsten?

Johannes Rau war kein typischer Politiker: weder am Beginn seiner Karriere noch am Schluss. Er war meinungsfreudig, verteidigte mit bergischer Hartnäckigkeit seine Standpunkte, aber er war nie parteilich im parteipolitischen Sinne. Wahr wurde für ihn eine Angelegenheit nicht dadurch, weil eine Delegiertenmehrheit es so wollte. Er hatte nichts gemein mit der dröhnenden Formelsprache des funktionierenden Funktionärs, den Mikrofonauftritten, die dem „unter uns Gesagten“ so beliebig widersprachen. Solche Widersprüche waren für ihn nicht etwa taktisch erlaubt nach dem Motto „so ist es eben in der Politik“, sondern sie waren für ihn der Anfang vom Ende einer auf Glaubwürdigkeit beruhenden Beziehung zwischen Politik und dem Volk. Er wollte dem Volk nichts vormachen. Er wollte hinter und zu seinem Wort stehen. Er wollte „sagen, was man tut“ und „tun, was man sagt“.

Nachrufen, die ihn nutzen wollen, kann sich kein Großer entziehen. Aber er war kein Moralprediger, sondern er war wirklich moralisch, sehr vielschichtig, sensibel, höchst selten verletzend, weil direkt, aber nie gewollt unehrlich. Konnte er aus Raison oder Rücksicht auf höhere Werte die Wahrheit nicht sagen, hat er lieber geschwiegen. Die unbefangene Unbekümmertheit des Machtmenschen, der meinte das mit donnernder Stimme und großer Geste erzwungene Schweigen der anderen sei schon Erfolg der Durchsetzung, war ihm nicht einmal Widerspruch, sondern nur Spott wert.

Ich durfte von ihm lernen und an seinem Geburtstag vor zwei Wochen in seinem Berliner Haus von ihm Abschied nehmen. Er hat sich über seinen Gesundheitszustand keine Illusionen gemacht. Im Nachhinein wird klar, er erlaubte einigen Freunden, sich zu trösten, indem er sie glauben ließ, er nähme die Verabredung zum nächsten Treffen ernst. Er hat an seinem Geburtstag von denen, die er nach Hause einlud, Abschied genommen, und er hat jedem ein paar Sätze ins Gepäck gegeben, die Nachhall haben werden. Er hat vielen vieles gegeben. Ich frage mich heute, hat er genug zurückbekommen?

Aber eins ist klar, die Fürsorge, ja liebevolle Begleitung und Umhegtheit, die er durch seine Familie, voran von seiner großartigen Frau Christina erfahren hat, hat an ihm gutgemacht, was er für andere Gutes gemacht hat. Ihr ist nichts entgangen. Sie hat verstanden. Sie wirkt auf mich unglaublich erwachsen, fast weise, und gleichzeitig jugendlich. Ihre zupackende, unaufgesetzte Unbefangenheit hat den Besuchern, die am Geburtstag von Johannes Rau Abschied nahmen, das Gespräch möglich gemacht. Damit hat sie ihm an diesem Tage schweigende Trauermienen erspart und uns die Beklommenheit, die die letzte Chance zum Gespräch verpasst hätte. Er knüpfte an alte Gespräche an und interessierte sich für Zukünftiges. Er sagte: „Es geht zu Ende.“ Aber wie er das sagte, lässt mich nun über die Kraft des christlichen Glaubens neu nachdenken.

Der Autor Bodo Hombach (53) wurde 1979 von Johannes Rau zum Wahlkampfmanager der SPD in Nordrhein-Westfalen gemacht. Er war NRW-Wirtschaftsminister und Chef des Bundeskanzleramts unter Gerhard Schröder. Heute ist er Geschäftsführer der WAZ-Mediengruppe.

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