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Die Briten feiern auch im Winter noch den „Frredom Day“, der ihnen schon im Sommer das Ende fast aller Coronamaßnahmen brachte. Und das, trotz ähnlich hoher Fallzahlen wie in Deutschland.

© REUTERS/Toby Melville

Ähnliche Corona-Zahlen, ganz andere Gemütslage: Macht Großbritannien in der vierten Welle etwas besser als wir?

Deutschland diskutiert über eine Verschärfung der Corona-Maßnahmen. Großbritannien glaubt, die Pandemie auch ohne bald besiegt zu haben. Warum?

Von Michael Schmidt

Cool, calm and collected, so sehen Briten sich am liebsten: ruhig, gelassen und gefasst. Und verglichen mit der an Panik grenzenden deutschen Reaktion auf die neue Coronavirus-Variante Omikron ist man geneigt zu sagen: Recht haben sie.

Die Frage allerdings ist, wenn man nicht an so etwas wie einen Nationalcharakter glaubt: Woher nimmt man im Königreich diese Ruhe? Denn eigentlich gibt es keinen Grund, sich entspannt zurückzulehnen.

Die Infektionszahlen steigen hier wie dort. In Deutschland zählte man zuletzt plusminus 70.000 Neuinfektionen binnen 24 Stunden – in Großbritannien mit 17 Millionen weniger Einwohnern um die 50.000.

Die Sieben-Tages-Inzidenz auf der Insel liegt seit Monaten zwischen 300 und 500 – in Deutschland aktuell bei 450.

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Und auch bei der Impfquote geben sich die beiden nicht viel: Großbritannien, stark gestartet mit der Kampagne, steht da, wo auch Deutschland, nach einem viel gescholtenen Stolperstart inzwischen angekommen ist – bei knapp 68 Prozent der Gesamtbevölkerung, die doppelt geimpft sind.

Zwei verschiedene Wege – ein ähnliches Ergebnis

Ein sehr ähnliches Bild. Dabei sind beide auf sehr unterschiedlichem Weg an diesen Punkt gelangt – und gehen auch im Weiteren sehr unterschiedlich mit Stand und Gang der Corona-Dinge um.

Unter dem Motto Eigenverantwortung statt Vorschriften wurden schon im Sommer, am 19. Juli, in England fast alle Corona-Maßnahmen außer Kraft gesetzt: „Freedom Day“. Maskentragen und Abstandhalten sind seither an den meisten Orten freiwillig. Es gibt keine Beschränkungen mehr für Clubs oder private Partys, auch Theater und Kinos dürfen ihre Säle wieder voll besetzen.

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„Wann sollten wir es tun, wenn nicht jetzt?“, fragte Premierminister Boris Johnson damals. In London und anderen großen Städten begrüßten Tausende Feierwütige ihre neugewonnene Freiheit. Allen horrenden Fallzahlen zum Trotz. Der Beschluss hat Bestand, erfreut sich großer Zustimmung. Bis zum heutigen Tage.

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Während hierzulande im Angesicht sehr ähnlicher Zahlen über harte und konsequente Maßnahmen vom erneuten Lockdown bis zur Impfpflicht nachgedacht und einigermaßen aufgeregt diskutiert wird, hört man von der Insel wenig. Die Stimmen einiger Mediziner einmal beiseite gelassen, die warnen, mehr Vorsicht wäre besser und ein Zurück zur Maskenpflicht, zu Homeoffice- und Abstandsgebot angezeigt, deren Rufe bisher aber mehr oder weniger ungehört verhallen.

Warum tun sie das?

Erstens, wie Andreas Stamm in einem ZDF-Beitrag zum Thema schreibt: Trotz gleichem Impfstand in der Gesamtbevölkerung, ist auf der Insel die Quote bei den Älteren viel höher. Über 90 Prozent der meist Gefährdeten sind geimpft. Dass Deutschland bei Ü-60 deutlich schlechter abschneidet, rächt sich jetzt.

Zweitens: Diese Gruppe ist auch beim Booster-Shot als erstes drangekommen, und die Bereitschaft zur dritten Spritze ist ebenfalls sehr hoch.

Drittens: Seit Beginn der Pandemie sind viel mehr Briten erkrankt und genesen. Diese natürliche Immunität ist (noch) nicht gleich Herden-Immunität, aber scheint doch im Moment ein starker, zusätzlicher Schutz. Die Schallmauer Inzidenz 500 wurde seit Sommer nicht durchbrochen.

Richtig ist aber auch, dass in Großbritannien gleich viele geimpft und viel mehr genesen sind – aber es sind auch viel mehr schon gestorben: 170.000, also fast doppelt so viele pro 100.000 Einwohner wie in Deutschland.

Vielleicht ist das letzte Wort in der britischen Angelegenheit noch nicht gesprochen, ist der forcierte Optimismus des britischen Erziehungsministers Nadhim Zahawi ein wenig verfrüht, der diese Woche erklärte, Großbritannien werde das erste Land sein, das die Pandemie besiegt hat.

Das Boulevard-Blatt „Daily Mail“ machte daraus eine triumphierende Überschrift mit den Fotos leergefegter Weihnachtsmärkte in Deutschland und Österreich und mit dem Bild brennender Barrikaden während der Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen in Belgien.

[Lesen Sie mehr zum Thema: Vor allem Junge infiziert - Wie die neue Coronavirus-Variante Südafrika trifft (T+)]

Jetzt gibt es B.1.1.529, die rasend schnell sich verbreitende Variante aus Südafrika, die alles nochmal ändern könnte. Samstag wurde bestätigt, dass es auch in Großbritannien zwei Fälle einer Infektion mit Omikron gibt.

Wenn die Variante wirklich viel infektiöser ist, wenn bisherige Impfungen tatsächlich weniger Schutz bieten, wenn das Boostern nicht hilft, die Intensivbetten knapp werden und die Zahl der Toten dramatisch steigt – vielleicht verlieren dann doch auch die Briten die Contenance. Und verlangen nach einem Premier, einer Politik, einer Regierung, die mehr zur Eindämmung des Virus tut als den Willen zu beschwören, sich von der Pandemie nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.

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