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Die meisten Beschwerden gibt es nach Operationen.

© dpa

Ärzte-Pfusch: Zehntausende Patienten prangern Behandlungsfehler an

Fast 25.000 mal im Jahr beschweren sich Patienten über etwaige Fehler in Kliniken, Heimen und Praxen. Doch ein Zentralregister über Fälle und Folgen fehlt.

Ein OP-Team verwechselt das Knie eines jungen Mannes – und der Chirurg schneidet das gesunde Gelenk auf. Noch während der OP wird der Fehler bemerkt, das gesunde Knie versorgt, das richtige operiert. Doch der Mann bekommt Schmerzen am zuvor gesunden Bein und benachrichtigt seine Krankenkasse. Eine Frau wird an den Bandscheiben operiert, danach gibt es Fragen an den Arzt. Der ist ein sogenannter Belegarzt, er wird von der Klinik also nur im Bedarfsfall gebucht – und ist nicht zu erreichen. Der Zustand der Frau wird schlechter. Nur zwei von vielen Beispielen für vermeidbare Behandlungsfehler, die von den Medizinischen Diensten der Krankenversicherung (MDK) am Dienstag in Berlin vorgestellt wurden.

Insgesamt 25.000 Verdachtsfälle im Jahr

Immer mehr Patienten melden mögliche Behandlungsfehler. Allein die MDK sind im vergangenen Jahr bundesweit fast 15 000 Verdachtsfällen nachgegangen – das sind 2000 mehr als 2012. Weil die Kassen die Versorgung ihrer Versicherten bezahlen, überprüfen deren regional organisierte MDK auch etwaige Behandlungsfehler. Hinzu kommen nach Patientenbeschwerden pro Jahr etwa 8000 Gutachten der Ärztekammern. Den Kammern gehören praktizierende Mediziner an, sie wachen über Berufsstandards. Außerdem dürften bei Patientenbeauftragten und lokalen Stellen weitere 2000 Fälle pro Jahr aktenkundig werden. Weil die meisten Fälle durch die MDK bekannt werden, gelten deren Zahlen als Gradmesser.

Die meisten Meldungen gibt es aus Kliniken

Das MDK-Dachgremium, der Medizinische Dienst des Kassen-Spitzenverbands (MDS), hatte in seiner Bilanz für 2013 am Dienstag erklärt: In 25 Prozent der 15 000 Fälle wurden Behandlungsfehler bestätigt. In Berlin und Brandenburg waren es fast 29 Prozent von rund 1600 gemeldeten Verdachtsfällen. Dazu kommt eine unbekannte Zahl von Fehlern, die nicht bemerkt oder nicht verfolgt wurden. Knapp 70 Prozent der Verdachtsfälle betreffen Krankenhäuser. Bezogen auf die bundesweit rund 19 Millionen Klinikbehandlungen pro Jahr ist die Zahl der Fehler allerdings eher gering.

"Verstärkte Sicherheitskultur" gefordert

Trotz verstärkter Bemühungen sind aus Sicht des MDS die Risiken in deutschen Kliniken nach wie vor viel höher als beispielsweise in der Schweiz. „Viele Behandlungsfehler wären vermeidbar“, sagte der leitende MDS-Arzt, Stefan Gronemeyer. Dass sich mehr Menschen beschwerten, liege wohl an mehr öffentlicher Wachsamkeit und Erleichterungen wie dem 2013 in Kraft getretenen Patientenrechtegesetz. Gronemeyer lobte zwar die seitdem bestehenden Vorgaben für Fehlermeldesysteme, doch noch würden viele Maßnahmen nicht ausreichend umgesetzt: „Wir brauchen eine verstärkte Sicherheitskultur. Der dazu erforderliche Kulturwandel ist aber bestenfalls eingeleitet.“ Generell werden Behandlungsfehler in Kliniken, Praxen und Heimen aber deutlich ernster genommen als noch vor Jahren – vor allem in der Altenpflege, in der lange überhaupt nicht von „Fehlern“ gesprochen wurde.

Kein zentrales Register, kein Überblick

Die MDK-Experten forderten am Dienstag besseres Training für Ärzte und Pfleger, verbindliche Checklisten, mehr Mut zum Hinterfragen (etwa beim Einnehmen mehrerer Medikamente) und anonyme Fehlermeldungen in Kliniken. Der Chef des Aktionsbündnisses Patientensicherheit, Hardy Müller, sprach auch die Unübersichtlichkeit im Gesundheitswesen an: Es fehle nicht nur der Überblick darüber, was in den Kliniken konkret umgesetzt werde. Es gebe außerdem kein Zentralregister darüber, wie viele Patienten tatsächlich Opfer von Behandlungsfehlern geworden sind. Müller sagte auch, es müsse intensiver über Personal gesprochen werden: Je höher die Arbeitsbelastung, desto eher komme es zu Fehlern. Immer wieder hatten Personalvertreter mehr Schwestern in Kliniken und Heimen gefordert. Beim Marburger Bund, der Gewerkschaft der Klinikärzte, spricht man sich für anonyme Fehlermeldesysteme aus. Dadurch würde deutlich, wann Stress der Grund für Nachlässigkeiten sei.

Prüfer: Oft entscheiden wir nur nach Aktenlage

Das Patientenrechtegesetz verpflichtet die Kassen, die Versicherten bei Ansprüchen nach Behandlungsfehlern zu unterstützen. Die größte Berliner Kasse AOK teilte mit, dass sie 2013 in der Hauptstadt rund 580 Fälle habe prüfen lassen. Die Kassen lassen Verdachtsfälle meist von den regional zuständigen MDK überprüfen. Allerdings, so sagten es MDK-Vertreter, könne oft nur nach Aktenlage entschieden werden: Im OP-Saal oder im Pflegeheim sei man schließlich nicht dabei.

Heimbetreiber durften bei Notensystem mitentscheiden

Erst am Montag hatte eine RTL-Reportage viel Aufsehen erregt. Eine Reporterin hatte Aufnahmen im teilweise maroden Pflegehaus Kreuzberg, einem Berliner Heim der Marseille-Kliniken, gemacht. Der MDK bewertete das Haus zuletzt mit der Note 1,3 – eine Zensur auf Grundlage eines umstrittenen Systems, auf das sich Bundesregierung, Kassen und Heimbetreiber einst geeinigt hatten. Eine Durchschnittszensur von 1,3 lässt sich auch erreichen, wenn die Pflege eher schlecht, der Speiseplan aber gut ist. Der Chef des MDK Berlin-Brandenburg, Axel Meeßen, sagte dem Tagesspiegel: „Man muss sich die Frage stellen, warum diejenigen, die benotet werden, am Benotungssystem mitarbeiten dürfen – und so viel Einfluss dabei haben.“

Die Marseille-Kliniken teilten mit, die Aufnahmen stammten von 2013, die gezeigten Mängel seien beseitigt. Das Heim sei unterbelegt, weshalb es Verluste erzeuge. Trotzdem halte Marseille am Haus fest, man fühle sich Bewohnern und Angehörigen verpflichtet. Es werde hauptsächlich von Bedürftigen bewohnt, die von der Sozialhilfe getragen würden, „darunter viele ehemalige Obdachlose und Schwerstalkoholiker, die nur schwer einen Platz in einem anderen Heim bekommen hätten“.

Informationen zu Berliner Krankenhäusern und Pflegeheimen finden Sie unter www.gesundheitsberater-berlin.de von Tagesspiegel und Gesundheitsstadt Berlin.

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