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Ärztin Irmgard Harms: „Jeden Tag kommen 1400 neue Flüchtlinge“

Die Ärztin Irmgard Harms über ausländische Hilfe für Somalias Hungeropfer - die Allgemeinmedizinerin und Mutter von fünf Kindern ist am Wochenende aus der somalischen Grenzregion nach Addis Abeba zurückgekehrt.

Frau Harms, Sie kommen gerade von den Flüchtlingscamps entlang der äthiopisch- somalischen Grenze zurück. Wie ist die Lage in Dolo Ado?

Dolo Ado liegt im Süden Äthiopiens etwa fünf Kilometer von der somalischen Grenze entfernt und ist schwer zu erreichen. Von Addis Abeba aus fährt man mit dem Auto drei Tage dorthin, die Strecke ist eine Schotterpiste. Im Moment flüchten viele Somalier vor dem Hunger, der zur Gewalt dort noch hinzugekommen ist, über die Grenze nach Äthiopien. Nach dem, was wir in Erfahrung bringen konnten, sind in der Dolo-Region inzwischen 80 000 Flüchtlinge registriert, weitere 40 000 sind dort, aber noch nicht registriert.

Wie werden diese Menschen jetzt versorgt?
Die äthiopische Regierung hat bereits mit den UN zusammen entlang der Grenze drei Camps mit großen Zelten eingerichtet, alle akkurat in Reihen aufgestellt. Das könnten wir in Deutschland nicht besser. Außerdem gibt es ein Registrierungscamp, von wo die Menschen auf die Camps verteilt werden. Jede Familie bekommt am Tag einen Beutel mit gekochtem Reis und etwas Öl, außerdem neun Liter Wasser pro Person. Das ist nicht viel, aber es gibt immerhin Wasser. Die Menschen reißen das Paket Reis aber nicht sofort auf, obwohl sie so schlecht ernährt sind. Wir wissen nicht, wann sie essen. Wir haben nie jemanden essen sehen.

Was geschieht mit denen, die nicht registriert sind?
Es kommen jeden Tag wohl etwa 1400 weitere völlig entkräftete Menschen in der Region Dolo an, darunter viele Frauen und Kinder unter fünf Jahren, die sich kaum auf den Beinen halten können, wenn sie überhaupt schon laufen können. Viele von ihnen hausen gerade mal unter ein paar Tüchern, die sie über Gestrüpp gelegt haben. Diese Flüchtlinge leben neben den offiziellen Camps. Das sieht zwar malerischer aus, diese Flüchtlinge haben aber praktisch keinen Zugang zu Lebensmitteln. Bisher sind auch noch nicht sehr viele Helfer in dieser Region. Mit so vielen Flüchtlingen in so kurzer Zeit hatte niemand gerechnet.

Was ist besonders nötig?
Lebensmittel und medizinische Versorgung. Essen und Medikamente kann man zum Teil im Land beschaffen. Die Leute sind alle völlig entkräftet, wir haben praktisch kein Kind gesehen, das gesund ist. Die Ankommenden sollten alle geimpft werden, um Krankheiten vorzubeugen. Offenbar gibt es Fälle von Masern. Bei so vielen ausgehungerten Menschen auf engstem Raum müssen wir auch mit Cholera rechnen. Vor allem aber würde ich mir wünschen, dass wir ein sogenanntes Feeding Center für die Kinder einrichten können. Dort könnten wir die Kleinen mit einer sehr kalorienreichen Lösung aufpäppeln. Eine solche Ernährung per Infusion oder Nasensonde ist für viele Kinder die einzige noch mögliche Rettung. Manche Kinder können nicht einmal mehr selbst ihren kleinen Kopf heben. Wenn diese schwachen Kleinen Reis und Öl essen, bekommen sie schweren Durchfall und verlieren noch die letzten Nährstoffe. Nach ein paar Tagen können wir ihnen dann Spezialkekse geben. Viele Kinder, die ich vorgestern dort gesehen habe, leben heute sicher nicht mehr.

Wie gehen Sie mit diesem Wissen und den Bildern um, die sie dort gesehen haben?
Das ist nicht leicht. Eine Begegnung hat mich sehr tief getroffen: Eine Mutter gestikulierte wild und zeigte auf ihr Kind. Ich habe erst gar nicht verstanden, was sie wollte. Dann kam sie ganz nah, zeigte auf das Mädchen und hielt mir einen zerknitterten Geldschein entgegen. Sie wollte mir alles geben, damit ich nur ihr Kind mitnehme. So etwas habe ich in all den Jahren noch nicht erlebt. Sehr traurig machen mich auch die kleinen mit Dornen versehenen Steinhügel mitten in den Camps. Das sind frische Gräber. Jeden Tag sterben so viele Menschen. Aber wir können auch vielen helfen, wenn wir es gut organisieren. Und jedes gerettete Leben zählt doch. Am liebsten würde ich sofort einen Tisch aufstellen und loslegen. Wir sehen, dass dort noch viel mehr Hilfe nötig ist. Die Menschen schleppen sich buchstäblich mit letzter Kraft in diese Camps.

Sie werden ungeduldig, wenn Sie all das Leid sehen.
Natürlich rührt mich das Leid tief im Herzen. Aber es kann nicht jeder kommen und sagen, die 1000 Leute übernehme jetzt ich, auch wenn einen das erst einmal schmerzt. Ich kann nicht schnell mal mit meinem Rucksack zur Grenze laufen und denken, ich könnte so den Entgegenkommenden helfen.

Wie soll die Hilfe aussehen?
Auch in dieser Situation muss Planung sein. Die äthiopische Regierung will wissen, was wir machen. Das wäre bei uns auch nicht anders. Wir können medizinische Hilfe leisten. Wir sprechen gerade einen Plan mit den Behörden ab. Ein zweites Team mit Ärzten ist am Samstag angekommen, ein drittes soll folgen. Es gibt dort viel zu tun.

Das Gespräch führte Ingrid Müller.

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