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Afghanistan: Die Coaching-Zone

Es bleiben nur zwei Jahre, und die Afghanen müssen selbst so weit sein, für Sicherheit in ihrem Land zu sorgen. Die Amerikaner sind im Pesch-Tal oft nur noch Beobachter.

Der Angreifer muss zwischen den Felsen liegen. Irgendwo dort oben. Wieder peitschen Schüsse durch die Abenddämmerung. Ein Trupp afghanischer Soldaten hat sich auf die Straße geworfen, einige Soldaten sind in die Weizenfelder geflüchtet. US-Leutnant Randall Combs kann es von seinem Hügel aus beobachten. Aber viel tun kann er nicht.

Teils zu Fuß, teils in Humvees ist die afghanische Patrouille durch das Tal gezogen und befand sich auf dem Weg ins nächste Dorf, als der Unbekannte von einem Bergrücken aus das Feuer eröffnete. Jetzt sitzt die Patrouille erst einmal fest.

Die Afghanen sollen vorrücken, fordert Combs über Funk. Die wollen nicht. Es sei denn, der Leutnant und seine zehn US-Infanteristen auf dem Hügel kommen herunter und führen sie an. So gibt der Übersetzer die Beratungen von unten weiter. Combs seufzt, lächelt nachsichtig und bleibt, wo er ist. „Sag ihnen, von hier oben können wir ihnen besser helfen.“ Dann befiehlt er, die Mörserstellung im zwei Kilometer entfernten Außenposten Nangalam bereitzumachen. Sein Scharfschütze sucht mit dem Zielfernrohr die Gegend ab. „Die Afghanen haben das Kämpfen im Blut, aber von Organisation und Militärwesen verstehen sie nicht viel“, flüstert der Leutnant.

Combs liegt oft auf diesem Hügel. Der 28-Jährige führt hier in Kunar an der pakistanischen Grenze einen Zug der Task Force Mountain Warrior an. Nahezu täglich ziehen er und seine Leute mit Einheiten des 6. Khandak, einem Regiment der afghanischen Armee, in dieses umkämpfte Tal. Während sie sich oben halten, schleichen die Afghanen in der Talsohle mit eingezogenen Köpfen voran und wissen, dass sie gleich angegriffen werden. „Da kann man hier absolut sicher sein“, sagt Combs. Im Laufe der Zeit haben die Amerikaner die Anhöhe, deren Gipfel wie eine Schüssel von 20 Metern Durchmesser geformt ist, zu einer Stellung ausgebaut. Sie haben umliegende Steine zu niedrigen Schutzwällen aufgeschichtet und kennen die meisten Orte, von denen die Kugeln kommen. Die Amerikaner beobachten oft nur, was vor sich geht, und geben Ratschläge über Funk.

Denn darum geht es hier jetzt vor allem. Seit der Ankündigung Präsident Obamas, die US-Truppen bis 2014 abzuziehen, sollen Afghanen überall im Land selbst für die Sicherheit sorgen. Auch die Deutschen, die im Norden stationiert sind, wollen „die Rückverlegung“ 2014 umsetzen.

Das Wort benutzt Verteidigungsminister Thomas de Maizière am Dienstag in Masar-i-Scharif, wohin er zu einem Blitzbesuch bei den deutschen Truppen gereist ist. Die Rückverlegung werde kompliziert, warnt er. Nicht nur wegen des vielen Materials, das fortgeschafft werden müsse, 1700 Fahrzeuge und 6000 Container mit Ausrüstung immerhin. Auch die Zahl der Angriffe habe, so der Minister, nach zwei schlimmen Jahren nun wieder das Niveau von 2009. „Das ist immer noch keine stabile Sicherheitslage, aber es ist ein großer Fortschritt“, sagt de Maizière.

„Ein Symbol für die Probleme dieses Krieges“ hat der Fernsehsender CBS das Pesch-Tal genannt. Erst hatten die Amerikaner dort unter großen Verlusten eine Basis in Nangalam errichtet, dann glaubten sie 2010, die Festung an afghanische Truppen übergeben zu können. Die rissen die Kabel heraus, verkauften die Einrichtung, hinterließen eine Ruine. Das soll sich nicht wiederholen.

Combs und seine Gebirgsjäger sehen von ihrem Posten aus nach zehn Minuten erste Schüsse eines Maschinengewehrs der afghanischen Armee. Leuchtspurmunition zischt in die Hügel. Vom Himmel hört man das Dröhnen einer A10 „Warthog“, die in 4000 Meter Höhe über dem Kampfgeschehen kreist. Das Kampfflugzeug ist mit hochauflösenden Kameras bestückt, die jedes Detail am Boden aufzeichnen. Die Besatzung meldet mehrere Wärmepunkte in der Gegend, aus der die Schüsse kamen.

„Vielleicht Ziegen?“, fragt Combs.

„Ziegen mit einem Handy-Signal“, antwortet der Beobachter im Flugzeug.

Starke Bewachung schützt nicht vor Anschlägen

Combs überlegt, was er tun soll. Wer weiß, ob es nicht nur Bauern auf dem Heimweg sind? Andererseits, sagt er, „neulich haben wir diese Typen so lange in ihrem Versteck festgenagelt, bis ein Apache-Hubschrauber da war und sie fertiggemacht hat.“

Diesmal verebbt die Schießerei von selbst. Die Berge haben den Angreifer wieder verschluckt. In der Finsternis steigen die Amerikaner den Hügel herab. Einer kommt vom Weg ab, gerät auf einen Friedhof und stolpert. Combs faucht ihn an. Ein Anschiss im Flüsterton.

Am Morgen steigt die Sonne über einer trügerischen Idylle auf. Gewaltig und nah drängen sich bis zu 2500 Meter hohe Gipfel um das Dorf Nangalam. Kleine Lehmsiedlungen tauchen aus dem Morgennebel auf. Das Pesch-Tal ist hier eng. Für Tommy Ryan, Combs Vorgesetztem, ist es ein Ort voller „Idioten“.

Der US-Hauptmann bewacht das Pesch-Tal mit vier Platoons. Nach einer späten Trainingsrunde im Kraftraum seiner Basis beugt er sich verschwitzt über seinen riesigen Metallschreibtisch. Die Dagger-Kompanie ist das erste Kommando des 23-Jährigen, Nangalam sein erster Kriegseinsatz. Auf einer Karte sind die „Limits of Advance“, die Grenzen des Vormarsches, eingezeichnet, und Ryans Basis ist auf der Landkarte von schwarzen Linien wie ein Gefangenenlager umgeben. Die „Idioten“, das sind lokale Taliban-Gruppen oder Leute des Salafistenführers Mullah Dowran, denen die Macht egal ist, aber nicht, ob die Menschen gute Muslime sind. Sind sie es nicht, müssen sie zahlen.

Es sind aber auch die Kämpfer, die auf ihrem Weg Richtung Kabul durch Ryans Revier ziehen. Von Ablegern der Taliban weiß er, von Kämpfern der Tahrik-i-Taliban-i-Pakistan, einer jüngeren Vereinigung, sowie von versprengten Al-Qaida- Terroristen aus den Vorgebirgen des Hindukusch. Sie hier nicht zu stellen und aufzuhalten, kann Schlimmes bedeuten. Immer wieder kommt es in der Hauptstadt zu Anschlägen, obwohl sie der am stärksten bewachte Ort des Landes ist. Bei einem Angriff auf das Spozmai-Hotel, 20 Kilometer von Kabul entfernt am Karga-See gelegen, kamen erst kürzlich 20 Ausflügler sowie die sieben Attentäter ums Leben.

Immer wieder rücken Afghanen und Ryans Leute aus, um die Schlupflöcher im Pesch-Tal zu schließen. Doch die Feinde sind nur ein Teil des Problems. Ein anderes sitzt direkt vor Ryan. Es hat sich mit ihm zum Essen verabredet. Der afghanische Oberstleutnant Adil Turab und Ryan treffen sich beinahe täglich zu Reisfleisch und grünem Tee.

„Als gestern die Mörsergranaten reingekommen sind, habt ihr schnell reagiert“, lobt Ryan den 64-jährigen Paschtunen mit dem schwarzen Bart und den lebhaften, tiefen Augen. Er ist der Hoffnungsträger der Amerikaner in diesem Teil Afghanistans, wo 300 Einheimische bis zum Abzug der Amerikaner im übernächsten Jahr in eine Truppe verwandelt werden sollen, die sich in dieser Umgebung halten kann. Ryan spricht respektvoll mit dem Älteren, lobt ihn und seine 300, wie er nur kann. Doch Turab winkt ab. „Meine Soldaten sind gute Jungs“, sagt er, „aber sie sind nicht so schlau wie deine.“

Will er es gar nicht alleine schaffen? Jedes Mal, wenn die Amerikaner sein Quartier aufsuchen, macht Turab ihnen klar, dass er ohne sie nicht bestehen kann. Nicht mit diesen Leuten, die erst in der Armee Lesen und Schreiben gelernt haben. Seine Soldaten besitzen keine Hubschrauber, keine kugelsicheren Westen, und sie können noch nicht richtig mit den Mörsern umgehen.

Aber selbst, wenn sie es könnten, besäßen sie noch immer keine Autorität. Für ein bisschen Geld lassen sich diese „10-Dollar-Taliban“, wie Turab die einheimischen Bergbewohner nennt, von jedem der zahllosen selbst ernannten „Kommandeure“ anheuern, um auf Turabs Leute zu schießen. Noch schlimmer, klagt Turab und lässt den Tee auftragen, seien die Stämme in den Seitentälern des Korengal und des Shuryak. Deren Bewohner fühlten sich jeweils als eigene Nation und wollten mit Außenstehenden nichts zu tun haben – weder mit den Taliban noch mit den Amerikanern und schon gar nicht mit der Regierung, die Turab hier verkörpert.

So unsichtbar und zahlreich tauchen die „Aufständischen“ aus der Bevölkerung auf und wieder in sie ein, dass kaum noch jemand unterscheiden kann, wer wer ist. Turab, der aus der ebenfalls umkämpften Provinz Khost stammt, traut den Einheimischen nicht, obwohl sie Paschtunen sind wie er selbst. „Für alle gelten die Menschenrechte, nur für Soldaten nicht. Kabul sagt: Tötet keine Zivilisten. Aber hier sind alle Schurken, und alle sind Zivilisten.“

Demokratie: Kann das funktionieren?

Die beiden Soldaten, der Amerikaner und der Afghane, sitzen mit jeweils mehreren Untergebenen sowie zwei US-Militärberatern in alten, bequemen Sesseln in Turabs Büro. Eine Wand wird von einem roten Vorhang bedeckt, und vor jedem der Anwesenden steht ein kleines Tischchen, auf das ein Diener eine Glastasse stellt. Aus einer alten Kanne serviert er dann den Tee. Turab, auf eine Lehne seines tiefen Sessels gestützt, ist danach, zu erklären, wie es in seinem Land läuft.

Ein paar Tage zuvor, sagt er, hätten seine Soldaten ein Dorf besucht. Die Männer dort hatten Schaufeln in der Hand und arbeiteten. „Alles war ruhig. Aber kaum waren meine Männer ein paar hundert Meter vom Dorf entfernt, haben die Leute ihre Gewehre rausgeholt und hinter ihnen hergeschossen.“ Wieso? Sie haben die Taliban beobachtet und machen es ihnen nach. „Es ist wie eine Welle“, sagt Turab. Humanismus und Menschenrechte seien in Ordnung, aber hier kämen sie nur den Bösen zugute.

Turab hat früher gegen die Russen gekämpft. Danach gegen die Taliban. Fragt man ihn, wie es weitergehen soll, sagt er: „Wir bräuchten zwei Jahre Diktatur, um den Aufstand mit unseren Mitteln niederzuschlagen.“

Seine Mittel? Was Turab meint, macht folgende Geschichte deutlich: Neulich, während eines Markttages in Nangalam, hätten die Leute von Mullah Dowran den Polizeichef entführt. Da habe der Distrikt-Gouverneur eine Gruppe Polizisten zum Bazar geschickt, mit dem Auftrag, jeden aus Dowrans Heimatdorf festzunehmen, den sie kriegen konnten. „So haben wir es schon unter dem König gemacht, lange bevor die Russen kamen“, habe der Gouverneur gesagt und 15 Männer gefesselt in sein kleines Gefängnis gesteckt. Irgendwann habe das Telefon geklingelt, Mullah Dowran sei dran gewesen. „Was soll denn das?“, habe der vor Wut geschnaubt. Er und der Gouverneur kennen sich schon lange. Im Krieg gegen die Russen haben sie zusammen gekämpft. Es sei ein bisschen hin und her gegangen, wie beim Feilschen. Dann seien alle wieder freigekommen.

Alles, was einem US-Militärberater dazu einfällt, ist: „Demokratie ist toll, aber hier schreibt man das Jahr 1391.“

Und ein Oberst in seinem Befehlsstand in der Basis „Joyce“, 30 Kilometer vom Pesch-Tal entfernt, sagt selbstkritisch: „Vielleicht ist das Beste, was wir dem Land gebracht haben, das Handy-Netz.“

Zwei Tage später schwebt ein Helikopter nachts in die abgedunkelte Basis „Joyce“ ein, an Bord ein Toter. 15 Aufständische haben dessen Außenposten bei Nangalam mit Gewehren angegriffen. Eine der ersten Kugeln hat den Paschtunen getötet. Während sich Ersatzleute bereit machen, den Platz des Toten im Helikopter einzunehmen, taumeln seine Kameraden geduckt durch die Wolken aus Sand und Steinchen, die die Rotorblätter über dem Flugfeld aufwirbeln. Auf einer Bahre tragen sie den Toten fort, der Leichnam ist in eine braune Wolldecke gehüllt.

„Hier werden noch viele sterben“, hat Oberstleutnant Turab prophezeit. Und er meinte, es werden Afghanen sein.

Noch bevor der Gefallene in einen Sanitätswagen geschoben worden ist, hebt der Helikopter wieder ab und verschwindet in der Dunkelheit.

Christian Kreutzer[Kunar]

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