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© AFP

Afghanistan: Die Unbeherrschten

Vor 90 Jahren wurde Afghanistan von Großbritannien unabhängig. Inwieweit wirken die Folgender britischen Kolonialherrschaft bis heute nach?

Es war der Schlusspunkt des bis dato größten Debakels der britischen Kolonialgeschichte. Am 10. August 1919 entließ Großbritannien Afghanistan in die Unabhängigkeit. Seit 1839 waren alle Versuche britischer Kolonialtruppen gescheitert, das wilde Land am Hindukusch unter ihre vollständige Kontrolle zu bringen und Indien anzuschließen. Immer wieder hatten sich regionale Stammesführer oder der afghanische Emir gegen die Fremdherrschaft erhoben, es gelang den britischen Truppen nicht, den afghanischen Widerstand dauerhaft zu brechen.

Während der Kolonialherrschaft kontrollierte Großbritannien die afghanische Außen- und Bündnispolitik. Doch nach Innen gewährte man den Afghanen weitgehende Autonomie. Damit war Englands strategischem Interesse, mit Afghanistan als Puffer dem nach Süden expandierenden Russland den Weg in die wichtigste und reichste britische Kolonie Indien zu versperren, Genüge getan. Die Loyalität des Emirs sicherte sich die britische Krone durch finanzielle Zuwendungen, mit denen dieser seine Armee bezahlen konnte. Ein Herrscher galt in Afghanistan nur solange etwas, wie er seinen Machtanspruch mit Soldaten durchsetzen konnte.

Auch heute noch ist die Bevölkerung Afghanistans in eine Vielzahl von Ethnien zersplittert, die ihrerseits wieder in verschiedene Stämme zerfallen. Die historische Gesellschaftsordnung baute immer auf den Stämmen auf, die eigene bewaffnete Formationen unterhielten. Nur im geschickten Ausspielen der Völker und Stämme gegeneinander, einer flexiblen Bündnispolitik und rücksichtsloser Gewalt konnte ein Emir oder König von Zeit zu Zeit seine Herrschaft über ganz Afghanistan durchsetzen. Wenn der jetzige afghanische Präsident Hamid Karsai versucht, seine Wiederwahl zu sichern, indem er den mächtigsten Warlords und Stammesfürsten Ministerposten in seiner Regierung verspricht, handelt er im Rahmen des traditionellen afghanischen Politikverständnisses.

Noch immer beruht die Macht der Warlords und Regionalfürsten auf dem Rückhalt eines Stammes oder einer Ethnie – und auf deren Waffen. Konflikte wurden unter den rivalisierenden Stämmen meist kriegerisch ausgetragen, was sich bis heute nicht grundlegend verändert hat. Eine Zeit des Friedens, von einem Miteinander ganz zu schweigen, war die Ausnahme. Nur wenn fremde Invasoren versuchten, das Land zu erobern, schlossen sich die Völker und Stämme zum Widerstand zusammen. Dies mussten schon die Perser, die Engländer und schließlich von 1979 bis 1989 die Sowjets erfahren.

1893 zwangen die Briten den afghanischen Emir zur Anerkennung einer Grenzlinie, die sie nach dem Prinzip Teile und Herrsche quer durch das Siedlungsgebiet der Paschtunen, der größten und einflussreichsten Volksgruppe in Afghanistan, zogen. Große Teile des afghanisch-paschtunischen Gebietes wurden annektiert und Britisch-Indien zugeschlagen. Die Zweiteilung des paschtunischen Siedlungsraumes ist seitdem ein ständiger Unruheherd. Auch heute ist diese Grenze verantwortlich für erhebliche Komplikationen im Krieg gegen die Taliban und die fragwürdige Rolle Pakistans in der Region.

Offiziell sind die Paschtunen heute Bürger zweier Nationalstaaten: Pakistan und Afghanistan. In der Realität ist ihre Loyalität untereinander entscheidend, die bestimmt wird von der paschtunischen Identität und der Stammeszugehörigkeit.

Da sich aus dem Volk der Paschtunen die Masse der Taliban rekrutiert, können sich diese frei in den eigenen Stammesgebieten auf beiden Seiten der Grenze bewegen. In Pakistan haben sie ihre Ruheräume, dorthin weichen sie vor den Angriffen der Amerikaner aus. Auf der pakistanischen Seite der Grenze bilden die paschtunischen Stammesgebiete eine autonome Region, die der pakistanische Staat praktisch nicht kontrolliert und verwaltet. Es ist ein ideales Versteck für die Führer der Taliban und deren Verbündeten Osama bin Laden, der sich mit anderen hochrangigen Führern von Al Qaida dort aufhalten soll.

Als die Briten Afghanistan 1919 in die Unabhängigkeit entließen, waren sie zuvor an den gleichen Problemen und Traditionen gescheitert, die noch heute die Realitäten in der afghanischen Gesellschaft und Politik bestimmen. Und mit jedem verwundeten oder toten Soldaten, der aus Afghanistan zurückkommt, bestimmen diese Realitäten auch unser Leben. Am Samstag überschritt die Zahl der seit Anfang 2002 in Afghanistan getöteten britischen Soldaten die Marke von 200.

Der Autor ist Militärhistoriker und Reserveoffizier.

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