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Afghanistan: Eine Reise zum Frieden am Hindukusch

Afghanistan ist in Deutschland heute das Synonym für Krieg. Doch es gibt eine kleine Insel: Bamian. Dort liegen unwirklich blaue Seen und der erste Nationalpark. Es ist das Tal der Buddha-Statuen, die die Taliban im März 2001 sprengten.

Das hat gerade noch gefehlt. Keinen Mucks tut der Motor des Nissan Patrol mehr, mitten im Nirgendwo an einem Checkpoint im Bamian-Tal in Afghanistan. Eben hat ein Polizist mit einem breiten hellen Pflaster auf der dunklen Wange den Halt an seiner Schranke befohlen. Hätten wir nicht einfach auf der Baustelle nebenan vorbeifahren können? Stattdessen rutscht ein Spezialpolizist neben den Dolmetscher auf den Rücksitz, verlangt den Pass der Ausländerin. Beruf? Vorhaben? Der schmale Mann im dunkelblauen Trainingsanzug notiert es in seine A5-Kladde. Sie wollen genau wissen, welche Fremden sich im Tal aufhalten. Dann dürfen wir weiter. Aber wir können nicht.

Kaum ist die Motorhaube offen, klettert der Planierraupenfahrer aus dem mit Gardinen und Glitzertroddeln verzierten Führerhaus; die Erde bebt nun nicht mehr. Sein Turban verschwindet mit den Mützen der Polizisten unter der Haube. Immer wieder taucht einer ins Fahrzeuginnere, mal, um eine Sicherung aus dem Ascher zu angeln, dann, um den Anlasser zu testen. Nichts. Dieselbe Diagnose fürs Handy: kein Empfang, nicht einmal am Satellitentelefon. Die Berge sind zu nah und zu hoch. Wir sitzen fest, eine halbe Stunde von Bamian Stadt, gute zwei Stunden vom Ziel, den Band-eAmir-Seen. Die Dieselpumpe ist kaputt. Wo gibt es Hilfe? Der eben noch so strenge Kladdenmann schwingt sich in schwarzen Schlappen und schmaler Sonnenbrille auf sein Moped, Dolmetscher Diamond hinten drauf. Nun taut auch der bepflasterte Wachposten auf, schon sitzen wir unter einem Vordach mit auf der schwarzen Decke, die sie mit Steinen befestigt haben. Einer gießt aus einem Messingkessel grünen Tee in Gläser. Das Aroma ungewaschener Füße schleicht sich in die Nase. Ein paar Worte Dari – wir haben neue Freunde.

Der Vermieter hat kein anderes Auto. Ein Mann, der Bauarbeiter zur Arbeit bringt, ist der Retter. Wir wechseln in seinen altersschwachen Toyota Corolla mit rotem Samtüberzug fürs Cockpit. Der Fahrer ruft einem noch zu: „Sag meiner Frau, dass ich zum Mittagessen nicht da bin.“ Weiter geht es durch die bizarr schönen wie staubigen Berge Afghanistans, immer wieder abseits der eigentlichen Straße, denn die ist eine einzige Baustelle. Nächstes Jahr soll die Asphaltdecke folgen, die Fahrtzeit auf eine Stunde schrumpfen. Im Winter ab Ende Oktober muss die Arbeit ruhen. Der motorisierte Verkehr hält sich in Grenzen. Minibusse, Trucks, ein paar alte Pkw. Vor allem Esel sind unterwegs. Viele hoch beladen mit Geflechtbüscheln, sie sind neben dem Dung der Tiere hier das Brennmaterial.

Nach gut zwei Stunden hüpfender Fahrt durch eine Felslandschaft, die mitunter an den Grand Canyon erinnert, erhascht das Auge den ersten Blick: Wasser, sehr blau. Eine Fata Morgana? Wie eine riesige Badewanne liegt ein See dort, von weißlichen Travertinwänden stürzt klares Nass metertief in eine Ebene, mäandert, bildet einen kleinen See. Insgesamt ist es eine Kette von sechs, die Band-e-Amir-Seen sind Magnet für die Menschen der weiteren Umgebung. Je nach Sonneneinstrahlung ändert das unwirklich blaue, klare Wasser seine Farbe. Allein so viel Wasser, das ist eine Attraktion in dem trockenen Land. Die Farbe verdankt es Mineralien. Viele Afghanen schreiben den Seen auf fast 3000 Meter Höhe magische Bedeutung zu.

Ein graubraunes Häuschen, beklebt mit Wahlplakaten, ein Findling – die Einfahrt zu Afghanistans erstem Nationalpark. Für 100 Afghani – etwa zwei US-Dollar – gewährt ein faltiger Mann Einfahrt. Es ist nicht einmal Freitag, aber zahlreiche Großfamilien sitzen vor ihren Kleinbussen, Männer waschen neben Zelten Fleisch fürs Abendessen. In einem lindgrünen Schwanenhals-Tretboot schippern verschleierte Mädchen über den See. An einem flachen Felsen wagen sich ein paar kichernde junge Frauen in die türkis-glitzernde Flut – natürlich komplett angezogen. Ab und zu kommt auch eine Ausländerin aus Kabul im Badeanzug. Sie ist bei den Männern dann die Attraktion, geben Manager Mohammad Arif Rahimy und seine Mitarbeiter etwas betreten auf diese „schwierige Frage“ zu. Rahimy möchte mit dem Nationalpark „Brücken bauen“. Die Menschen jenseits der Grenzen müssten doch auch dieses so andere Afghanistan kennenlernen, wünscht er sich beim Aufstieg zum See. Ein Motorboot liegt am Ufer, dessen Betrieb haben sie verboten.

Seit Juni ist der Südafrikaner David Bradfield mit von der Partie bei der Wildlife Conservation Society. Geld bekommt ihr Projekt aus Kabul, den Ökotourismus unterstützen aber auch die Aga-Khan-Stiftung und NZAID, die neuseeländische Entwicklungsagentur. Sie sehen großes Potenzial. Inzwischen haben die Dorfbewohner akzeptiert, dass der schlaksige Weiße unter ihnen lebt, erzählt er lachend, während er sein Handy aus der Astgabel eines jungen Baums klaubt. Der wächst an einem nach Urin stinkenden Rinnsal, an dem oberhalb gerade jemand seine Wäsche wäscht. Nur im Baum hat das Handy Empfang, er also Kontakt zur Außenwelt. Rahimy, Bradfield und ihr Team haben ambitionierte Pläne. Sie wollen alle 14 Dörfer an den Seen ins Parkgeschäft einbeziehen, Unterkünfte vom Campingplatz bis zur Nobelherberge bauen, Abenteuertouristen und Naturliebhabern Wander-, Kletter- und Treckingtouren, Paragliding, Vogelbeobachtung, im Winter auch Skitouren durch die Wildnis anbieten. Sogar einen Helikopterlandeplatz kann Bradfield sich vorstellen. Das sei nicht umweltschädlicher, als wenn alle in ihren Autos kämen. Ein Disney-Spielplatz soll das Reservat aber nicht werden. Bradfield denkt an einen Krügerpark. Die empfindlichen Travertinwände wollen sie mit Bohlen schützen, sonst würden sie bald zusammenstürzen. Der Parkeingang soll ein Stück außerhalb angelegt werden, schon dort sollen Besucher Informationen bekommen. Bisher weist nur der Findling auf den Nationalpark hin. Besucher werden sich verpflichten müssen, keinen Müll zu hinterlassen, Ranger patrouillieren. Bradfield und Rahimy wissen, es ist ein weiter Weg. Vor nicht allzu langer Zeit haben die Leute hier noch ihre Autos gewaschen.

Am Checkpoint winken sie uns auf der Rückfahrt zu. Unser Fahrer hält kurz daheim, stellt seine Familie vor. Ob wir nicht bei ihnen übernachten wollen? Mit dem schwindenden Licht des Tages hat uns das Tal der Buddhas wieder.

Das Tal der Buddha-Nischen. Im März 2001 erschütterte die Sprengung der weltweit größten Buddha-Statuen aus dem sechsten Jahrhundert durch menschenverachtende Taliban nicht nur Bamian, sondern die ganze Welt. Heute gilt das Tal rund 230 Kilometer westlich von Kabul mit der einzigen Gouverneurin Afghanistans als eines der ruhigsten des Landes. Nicht zuletzt, weil seine Bewohner, meist Hasara, sehr aufmerksam registrieren, wer sich in der Gegend aufhält, und jeden melden, der nicht hier hergehört. Das macht es Unruhestiftern von außen schwer, in das abgeschnittene Tal zu kommen. Taliban zwangen damals Bewohner, die Sprengladungen an den Buddhas anzubringen, viele wurden vertrieben. Für die Menschen hier gehören die verlorenen Statuen im roten Sandsteinmassiv aber weiter zu Bamian. Und das, obwohl vom großen, 55 Meter hohen Buddha nur noch ein Fuß in der mächtigen Nische steht und die Reste der Schwesterstatue (38 Meter) derzeit hinter einem verzweigten Baugerüst verschwunden sind. Die Lücken im Fels sind so mächtig, dass sie das Gefühl vermitteln, als wachten die Buddhas noch immer dort. Klein wie ein Wicht fühlt sich, wer unten neben den steinernen Zehen des großen Buddhas steht. In schwindelnder Höhe ist ein Loch im Fels, dort, wo der Kopf war. Was mag der Buddha gesehen haben?

Hintenherum kann man sich anpirschen. Eine halbe Stunde Geröll-Serpentinen hinauf, vorbei an Zeugnissen der langen kriegerischen Geschichte. Dann ein verzweigter Tunnel mit Gräben, die ehedem Holzstützen trugen, eine Ecke weiter schmale Holzplanken. Stopp. Hier muss es sein. Vorsichtige Drehung nach rechts, der Lohn fürs Klettern – ein gewaltiger Ausblick.

Das Herz geht auf: zauberhaftes Märchenland. Die ganze Weite des wie aus der Welt gefallenen Tals liegt einem zu Füßen. Saftige Alleen, tiefgrüne Kartoffelfelder, Weizenähren zu Bündeln geschnürt, beladene Esel und Mopeds am verlassenen alten Basar, lehmfarbene Mauern mit Zinnen, die Häuser umsäumen, im Hintergrund Fünftausender, auf deren Gipfeln auch jetzt im Sommer noch Schnee liegt. Ob es so im Paradies aussieht?

„Für mich ist das hier das wirkliche Afghanistan, nicht Helmand, Kandahar oder Kabul“, schwärmt Aga-Khan-Regionaldirektor Robert Thelen. Der Mann aus Montana wollte selbst erst gar nicht herkommen. „Es gibt nicht nur die Buddhas, auch die Seen, die Berge. Und wie die Menschen hier leben. Es hat zwar 30 Jahre Krieg gegeben, aber die Leute mussten doch ihr Leben führen, das ist für Leute aus der ganzen Welt interessant.“ Es ist ein hartes und armes Leben, denn die Volksgruppe der Hasara, die hier wohnen, ist praktisch immer vernachlässigt und oft genug verfolgt worden. Doch sie waren immer stolz. Hier in der Gegend können viele lesen und schreiben. Langsam geht es aufwärts in Bamian.

Der Basar an der Hauptstraße wächst und wächst. Ein alter Mann in Pumphosen wedelt den Staub von Töpfen und Kannen, die er auf dem Trottoir ausstellt, Männer in traditioneller Tracht palavern unter den Arkaden, von oben baumeln T-Shirts herab, Frauen studieren die Goldauswahl beim Schmuckhändler. In Handyshops glitzern Fakes aus China, am Ende einer Stahltreppe bietet das Bam-Net-Internetcafé seine Dienste an. Solarpaneele warten für 20 bis 500 Dollar auf dem Bürgersteig auf Käufer, beim Schuhmacher unter einem Baum kriegen die Kunden Ersatzschlappen für die Wartezeit. Die Preise in Bamian sind höher als an manch anderem Ort. Und sie steigen. Es wird kräftig gebaut. Es hat sich herumgesprochen, dass es hier friedlich ist.

Auch die Neuseeländer, die im Rahmen des internationalen Engagements hier herkamen, setzen darauf , dass sich das Tal gut entwickelt. Allein die Landwirtschaft wird den Menschen auf Dauer kein Einkommen sichern, auch wenn 85 Prozent bisher davon leben. Die Kartoffeln, die Aprikosen und der Honig sind im ganzen Land begehrt, aber ein zweites Standbein muss her. Viele Deutsche würden der obersten Entwicklungshelferin Wellingtons in Bamian vermutlich einen Vogel zeigen, aber Kathleen Pearce ist überzeugt, dass Ökotourismus hier eine Zukunft hat und Arbeitsplätze schaffen kann. Sie finanziert deshalb Projekte der Aga-Khan-Stiftung mit. Dass es am Hindukusch nicht nur Krieg, sondern fantastische Reiseziele gibt, können sich die meisten Menschen in Berlin, Schwerin oder Freiburg kaum vorstellen. Lange ist es her, dass die Buddhas in den 60ern bei Hippies beliebt waren. Bamian soll wieder Ziel für Outdoorurlauber werden. Das Ökotourismusteam von Aga-Khan-Regionaldirektor Robert Thelen hat bereits 22 lokale Tourguides, darunter vier Frauen, ausgebildet. Sie kennen die Geschichte Buddhas und der 12 000 Höhlen, die Seen, die rote Stadt. Auch der Deutsche Bert Praxenthaler hat sich an der Ausbildung der Studenten zu Fremdenführern beteiligt. Der Bildhauer und Kunsthistoriker aus Bayern mit den kurzen weißen Haaren und der Metallbrille kommt seit 2004 immer wieder im Auftrag des Internationalen Denkmalrats Icomos hierher, um zu retten, was von dem Unesco-Weltkulturerbe in den Felsen noch zu retten ist. Jahrelang zahlte auch Deutschland erkleckliche Summen, doch im Zuge des Sparens zog sich das Auswärtige Amt weitgehend zurück.

In diesem Sommer war die Arbeit von Praxenthaler und seinen 20 afghanischen Mitarbeitern wenig spektakulär. Sie haben die Rückwand des kleinen Buddhas stabilisiert. „200 laufende Meter Edelstahlanker“, bis zu sieben Meter fünfzig tief haben sie „ordentlich gebohrt“. Praxenthaler ist stolz auf die Mitarbeiter, die auch bis nachts um zehn bleiben, wenn eine Fuge nicht enden will und stundenlang verfüllt werden muss. Mit umgerechnet 16 Dollar Tageslohn verdienen gelernte Arbeiter in den vier Monaten ein Jahresgehalt, Ungelernte erhalten die Hälfte. Es ist ein gutes Einkommen in der armen Gegend. Und mancher Afghane, schmunzelt der Bayer, sei schon deutscher als die Deutschen. Um sieben in der Früh ist Arbeitsbeginn, keiner kommt mehr zu spät, der Vorarbeiter hat seine Männer „gedrillt“. Sie wissen, dass sie mit dem Zertifikat von den Ausländern auch anderswo Arbeit finden.

„Ich bin der Direktor des Museums von Bamian, das es leider noch nicht gibt“, stellt sich Rasool Shojaei vor. Der schmale 26-jährige Afghane in Poloshirt und Jeans ist in Iran aufgewachsen, seine Eltern flohen vor den Mudschaheddin aus dem Bamiantal. Vor drei Jahren kam er als Archäologe zurück, heuerte bei der Regierung für das Buddha-Projekt an. Bamian, das Tal, die Buddhas, „das ist mein Herz“, sagt er. Sein ganzer Körper scheint zu leuchten.

Noch liegen die bis zu 30 Tonnen schweren Fundstücke in unscheinbaren Baracken am Fuß der Nischen. Mancher in Bamian würde die Buddhas gern wieder aufbauen, für Rasool kommt das nicht infrage: „Das mögen wir Archäologen nicht.“ Stücke, deren Ursprung sie zuordnen können, könnten zurückkehren, mehr aber nicht. Es gibt auch Überlegungen, die Statuen mit einem Beamer virtuell wieder erstehen zu lassen. Vorher aber müssen die Menschen im Tal Strom zum Leben haben. In zwei Jahren, hoffen sie, könnte das der Fall sein.

Rasool Shojaei wünscht sich, dass die Zentralregierung zustimmt und Japan sein Museum bauen darf, in zehn Jahren könnte es stehen. Zwischendrin möchte er noch in Europa oder Asien studieren. Und dann, dann hat noch einen Traum. Den spricht er ganz leise aus: „In 20, 30 Jahren möchte ich einen neuen Buddha bauen.“ Nicht direkt hier, im nächsten Tal, acht Kilometer weiter. „Natürlich sind wir heute Muslime, aber das ist doch unsere Geschichte“, sagt Shojaei mit einer gewissen Sehnsucht in der Stimme, und „es könnte eine schöne Touristenattraktion werden“. Im Moment würde solch einem Vorhaben in Kabul kaum jemand zustimmen. In Bamian schon.

Rasool Shojaei sähe es gern, wenn sich sein Land schnell verändern würde. Doch er weiß, es ist ein Wunschtraum. Dass die fremden Truppen sein Land 2014 verlassen, glaubt er nicht. Dafür gebe es zu viele Taliban. „Die Taliban“, sagt er, „sind nicht irgendeine fremde Gruppe. Sie sind Afghanen, unsere Leute. Wir müssen ihre Gedanken verändern, wir können nicht gegen sie kämpfen.“ Dann fügt er nachdenklich hinzu: „Aber sie sind nicht so flexibel wie die Menschen in Bamian. Das wird wohl zwei bis drei Generationen dauern.“

Robert Thelen sitzt unter dem Fliegenfänger, der klebrig von der Decke seines Büros baumelt, einen knappen Kilometer von den Felsen entfernt. Beim Aufbau des Tourismus seien sie schon auf halbem Wege, sagt er. In wenigen Jahren könnten die ausländischen Aga-Khan-Mitarbeiter gehen, die afghanischen Kollegen brauchten dann zwar erst noch Unterstützung von ihrer Regierung, aber „in zehn Jahren könnte der private Sektor ganz übernehmen“. Ein paar nette Hotels gibt es in Bamian bereits. Allerdings, warnt Thelen, sollten die Tourismusmanager „nicht in die Falle der Nostalgie tappen“ und allein auf die Buddhas setzen. „Es ist doch wie mit der Berliner Mauer. Vor zehn Jahren waren viele Leute gar nicht hier, sie waren vertrieben, dürften gar nicht hier sein. Viele kennen die Buddhas nicht.“ Die Touristen in den 60ern hat kaum jemand erlebt, die Lebenserwartung liegt nur bei 44 Jahren. Thelen will auch die anderen Sehenswürdigkeiten promoten. Wo sonst gibt es ein so unberührtes Gebiet zum Skifahren?

Voraussetzung für einen Erfolg aber ist der Flugbetrieb. Bisher wollte allerdings keine Airline ins Geschäft einsteigen. „Im Sommer würde sich eine Verbindung von Kabul zweimal die Woche auf jeden Fall lohnen“, ist Thelen überzeugt. Der fünfstündige Trip von Kabul über Land ist gefährlich. Immer wieder werden Autos unterwegs überfallen.

Im Bamiantal muss bisher niemand Selbstmordattentate, Überfälle oder Entführungen fürchten. An die langen Kriegsjahre erinnern vor allem sowjetische Panzer auf den Feldern. Von Zeit zu Zeit finden sie aber selbst an den Buddhas noch Bomben aus diesem Krieg. Dann rufen Praxenthaler und seine Kollegen die neuseeländischen Soldaten von der Kiwi Base, dem Wiederaufbauteam, zu Hilfe. Ganz, ganz vorsichtig bergen deren Experten schon mal 250-Kilo-Bomben mit TNT und Napalm, berichtet der Bayer ehrfürchtig.

Im vielleicht kleinsten Stützpunkt der internationalen Schutztruppe Isaf tun 108 Soldaten aus Neuseeland Dienst. Ein großer Kiwi-Vogel, das neuseeländische Wappentier, am Eingang verleiht dem Camp trotz Stacheldraht und Schutzwall etwas Leichtes. Das Camp ist nicht nur klein, es ist auch ziemlich einfach. Die meisten Frauen und Männer wohnen in Sperrholzhütten, die deutsche Brandschützer vermutlich um den Schlaf brächten. In der Kantine wird an langen Tischen und Bänken ohne Lehne gegessen. Zu der kleinen Truppe gehören auch Soldaten aus Singapur, Malaysia und den USA, mit dabei ist auch die Entwicklungsagentur USAID.

Die Frauen und Männer aus Neuseeland werden von den Afghanen meist fröhlich mit einem Lächeln oder hochgereckten Daumen gegrüßt. Allerdings gibt es auch einen Sorgenzipfel in der Provinz Bamian, die etwa so groß ist wie Schleswig-Holstein. Seit einigen Jahren zählt im Nordosten ein Teil dazu, der früher zur Provinz Baghlan gehörte. Baghlan ist die Unruheprovinz, in der auch die deutschen Isaf-Soldaten derzeit mächtige Probleme haben. In der Region haben auch die Kiwis Spezialkräfte im Einsatz, auch wenn der Kommandeur darüber nicht reden will.

Für das Wiederaufbauteam (PRT) unter Oberstleutnant John Boswell, 45, waren die vergangenen Wochen hart. Sie verloren den ersten Neuseeländer in Bamian, wo die Kiwi-Truppen seit Ende September 2003 sind. Timothy O’Donnell wurde Anfang August bei einem nächtlichen Gefecht in dem Unruhegebiet getötet, er wurde nur 28. Zwei Kameraden wurden schwer verletzt. John Boswell, selbst Vater von zwei Kindern, hat mit Tims Eltern telefoniert, dessen zwölf Kameraden auf dem Außenposten haben Botschaften für sie aufgenommen – alle kannten den jungen Leutnant. Zur Trauerfeier sind auch die Kollegen aus den Außenlagern nach Bamian gekommen. Für John Boswell hätte der Wechsel kaum extremer sein können, er war vorher an Neuseelands Botschaft in London. Nun muss er seinen Leuten Halt geben.

Natürlich wissen sie alle, dass sie mit Bamian die ruhigste Provinz betreuen. Nur in die Gefahrenzone fahren sie mit gepanzerten Fahrzeugen, sonst reichen aufgerüstete Pick-ups. „Ein Neuseeländer ist auf jeden Fall einer zu viel“, sagt der Kommandeur mit den wachen braunen Augen. „Aber wir hatten nur zwei Angriffe in vier Monaten, in Afghanistan ist das quasi nichts.“ In Bamian gibt es nicht einmal die afghanische Armee, „sie ist nicht nötig“, sagt Boswell.

Das sagt der Kopf. Bauch und Herz aber fühlen den Schmerz. Doch das wollen sie sich nicht anmerken lassen. Nur nicht über den Toten reden müssen. Jeder Afghane bis in den letzten Winkel des Tals begrüßt sie mit einer Beileidsbekundung. Die Soldaten wischen sie mit einem knappen Dank weg. Es muss weitergehen, es soll weitergehen. Sogar Tims Vater will keine Debatte über einen Abzug, Mark O’Donnell sagte in einem Interview: „Es wäre eine Verschwendung von Tims Leben, wenn wir jetzt abziehen würden.“

Draußen macht sich das Team vom Außenposten Chunik Bair im Yakawlang-Distrikt bereit. Ihr Einsatzort liegt drei Fahrtstunden im Westen. Scharfschütze Sam, alias Michael Chan, hat sich noch schnell ein paar Flaschen Wasser und zwei Äpfel aus der Kantine geholt, die Vormittagssonne brennt schon heiß. Er legt die Schutzweste an, verstaut das MG samt Patronengürtel zwischen Fahrer- und Beifahrersitz des lehmverspritzten weißen Toyota Hilux. Dann klettert der 24-Jährige aus Picton, einem 3000-Seelen-Ort am obersten Ende der Südinsel Neuseelands, hinters Steuer von „Hades“. Den klangvollen Namen hat er kunstvoll in Schwarz auf die Kühlerhaube gepinselt. Zum Konvoi gehören auch „Achilles“ und „Poseidon“. Medizinerin Penny Fairbairn schlingt sich noch ein Palästinensertuch vors Gesicht, bevor sie ihren Motor startet: Schutz gegen Sand und Staub bei offenen Fenstern auf der Dauerbaustelle bis Nayak. Offene Fenster, das würde sich anderswo kaum ein Militärtrupp trauen.

Die meiste Zeit jagen die Pick-ups jenseits der Straße durch Sand und Geröll, denn das, was einmal Schnellstraße werden soll, ist fast durchgehend Baustelle. Vorbei geht es an atemberaubend schönen Felsformationen, alten Forts, wenig Grün, über ein Hochplateau auf gut 3000 Meter, viel rote Erde, vor allem aber durch weitgehend unbewohnte Gegend.

Kurz vor dem Ort Nayak lässt sich das Leben wieder blicken, von seiner armen afghanischen Seite. Am Fluss hocken Frauen und Kinder. Wäsche wird gewaschen und Geschirr. Hinter einem Torbogen, der den Stadteingang markiert, reihen sich einfache Geschäfte in einstöckigen Lehmhäusern aneinander. Die Straße ist noch vom letzten Regen matschig und unbefestigt, Nayak erinnert an einen Ort im Wilden Westen um 1900, nur dass die Pferde fehlen.

Hades, Achilles und Poseidon kurven den Berg hinauf. Michael Chans rotbraune Haare und sein Bart stehen längst vor Dreck, er schäkert mit den Kindern. Ihr Camp Chunik Bair liegt oben am Hang, wie ein kleines Fort, umgeben von Lehmmauern und Schotterwällen, man kann nie wissen. Einen Monat bleiben die sieben Soldaten meist hier, ehe sie wieder einmal nach Bamian kommen. In Nayak führen sie ein modernes Trapperleben. Mit Plumpsklo, einfachen Waschgelegenheiten, Feldbetten mit Matratzen darauf als Betten. Im Essensraum sorgen zwei an der Tür verschnürte Flaschen mit Wasser dafür, dass das Mückengitter automatisch schließt, in einer Ecke steht ein Bollerofen. In der Freizeit: ein paar Spiele, ein krisseliges TV-Programm über Satellit und Selbstversorgung in der Küche dahinter – und Internet. Das ist heute besonders wichtig, denn das Rugbyspiel, ihren Nationalsport, kriegen sie nur via Livestream. Zwei Feldbetten werden auf den Hof geschleppt. Bei gefühlten zwölf Grad tauscht selbst Michael Chan zur zweiten Halbzeit sein Tank Top gegen einen Pulli.

Aber vorher gucken sie noch, was am Damm vor dem Wasserkraftwerk los ist. Der Chef des neuseeländischen Teams hatte 7000 Dollar lockergemacht, damit die Mauer des Zulaufkanals repariert werden kann; der Fluss hatte nach starkem Regen ein Loch hineingerissen. Doch, wird Leutnant Vincent McDonald ausgerichtet, es gibt den nächsten Schaden. Hades und Achilles rumpeln über Geröllpisten los, dann geht es nicht weiter: ein Fluss. „Das ist die Straße“, sagt McDonald, runzelt die Stirn. Letztes Mal war kaum Wasser da. Der 38-jährige Leutnant steigt aus, berät mit Michael Chan. Das Wasser fließt schnell, ist trübe. Sie wollen es trotzdem versuchen. Langsam gleitet Hades ins Flussbett. Plötzlich rutscht der Pick-up nach rechts. „Fuck! Ich sitze fest.“ Michael Chan haut aufs Lenkrad. Viel Zeit bleibt nicht, Hades hat verdächtig Schlagseite nach rechts, dort steht das Wasser schon bis zum Fenster, am Türrahmen sprudelt es rein. Wie war das in den Filmen, wo sie nicht mehr aus ihren Autos kommen? Michael dreht sich aus seiner Schutzweste, klettert durchs Fahrerfenster, US-Ingenieur Ron Ashley nimmt das hintere Fenster aufs Dach, sie greifen den Rucksack mit der Funkausrüstung, die Waffen. Kurz überlegen. Das glitschig-steinige Ufer ist einen Meter entfernt. Also: springen.

Michael springt ins Wasser. Ein spitzer Schrei. Er hatte gedacht, die kalten Fluten reichten ihm bis zur Hüfte, aber er verschwindet bis fast zu den Achseln. Eine Schrecksekunde, dann rappelt er sich auf. Kurze Abschleppberatung mit dem Achillesteam. Hades ruckt los, wird von der Strömung mitgerissen, saust steuerungslos gen felsiges Ufer, ein Knall. Just da greifen die Reifen, der Aufprall zerschmettert nur den Spiegel. Es dauert eine gute halbe Stunde, bis Hades wieder an Land ist. Klatschnass und fassungslos inspizieren die Soldaten den verschlammten Motorraum. Die Maschine verweigert jeden weiteren Dienst.

Wie aus dem Nichts stehen der Bürgermeister und der Schura-Chef vor McDonald. Die beiden wollen dem triefenden Leutnant unbedingt hier und jetzt Material zum Schutz des Kraftwerkdamms abhandeln. Schließlich, so meint der Bürgermeister, habe er nichts damit zu tun, denn den Kanal habe eine Hilfsorganisation gebaut, das sei deren Projekt. Aber da hat er keine Chance. McDonald lässt sich seinen Ärger nicht anmerken, aber er macht klar, dass jetzt die Kommune an der Reihe ist. Er weiß, dass der auf mittellos machende Ortschef 300 von den Körben hat, die er vom PRT haben will. McDonald verabschiedet sich freundlich, aber bestimmt von den beiden konsterniert dreinblickenden Honoratioren.

Die nächste halbe Stunde ist Offroad-Abschleppen über steile Serpentinen und knifflige Kurven angesagt. Das kostet Kraft. Mit zusammengebissenen Zähnen stemmt Michael Chan seine 100 Kilo auf das Bremspedal. Im Camp gibt es wenigstens eine Aufmunterung. Seine Freundin hat ihm eine Voodoo-Puppe geschickt. Michael grinst.

Am nächsten Morgen der nächste Versuch. Diesmal bleiben die Pick-ups vor dem Fluss stehen. Heute steckt ein Laster fest. Fußmarsch entlang dem Fluss. In einem Gebüsch finden sie schließlich einem Steg aus schmalen Ästen und Lehm. Ein Ziegenhirte kommt vorbei. Kurzes Palaver am Kraftwerk – um zur fraglichen Mauer zu kommen, müssen sie über eine wackelige Holzbrücke, weiter auf der Krone der Kanalwand. McDonald legt die Weste ab, die kann er beim Klettern nicht brauchen, sein zweiter Mann bleibt als Wache zurück. Der Leutnant schreitet forsch auf der 40 Zentimeter breiten Wand aus, links rauscht das Kanalwasser gen Turbine, rechts das Wasser des Flusses. Nach einem halben Kilometer treffen sie einen faltigen Mann in traditioneller Kluft mit Käppi, einen gelben und einen blauen Latschen an den Füßen. Gewissenhaft wässert er die Mauerkrone – Beton braucht in den ersten Wochen gute Pflege. McDonald springt die zweieinhalb Meter zum steinigen Ufer hinab, der alte Vorarbeiter folgt wie ein Wiesel. Ingenieur Ashley (57) prüft die Standfestigkeit. Beide sind beeindruckt. „Das ist die beste und schnellste Arbeit, die ich hier bisher gesehen habe“, sagt McDonald. Der reparierte Part liegt an einer Flussbiegung, es wäre gut, hier mit Geröll gefüllte Körbe als Schutz aufzustellen, sagen sie den Arbeitern. Aber die, betont McDonald auch hier, muss der Bürgermeister organisieren. Der 55-jährige Vorarbeiter ist so aufgedreht, dass er Ron einen Ringkampf anbietet. Der Alte sieht aus, als wäre er fast 100, das harte Leben hat seine Spuren hinterlassen. Bis zum nächsten Besuch wird er trainieren, lacht er fast zahnlos.

Ron Ashley ahnt, warum die Reparatur so gut geklappt hat. Vom kleinen Kraftwerk mit den zwei Turbinen führen gute Kabel in den Ort – Strom für die Menschen. Abends wollen sie fernsehen und kochen. Jeder profitiert, meist gratis. Doch das wird sich ändern müssen. Auch darauf werden die Soldaten die Afghanen vorbereiten. Keine leichte Aufgabe. Das Kraftwerk haben Hilfsorganisationen finanziert. Sie müssen den Menschen klarmachen, dass das Schenken ein Ende hat. In der Zukunft werden die Kunden Mitarbeiter, Wachen und Betrieb zahlen müssen. Als Nächstes sollen Ablesegeräte installiert werden. Ron Ashley ahnt, dass es nicht einfach werden wird, klarzumachen, warum das, was bisher nichts gekostet hat, nun bezahlt werden soll. Aber anders geht es nicht.

„Wir müssen diesen Kreislauf durchbrechen“, sagt McDonald. „Bisher kommen die Menschen immer erst zu uns, wenn sie etwas brauchen.“ Er wird auch weiter helfen, aber er wird die Hilfe reduzieren. Auch dem nächsten Funktionär, den er am Kraftwerk trifft, sagt er, dass jetzt die Gemeinde mit einem Beitrag am Zug sei. McDonald wird es noch oft sagen. Es ist ein mühsames Geschäft. Doch letzten Endes werden die Afghanen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen müssen.

Beim Polizeichef scheint McDonald mindestens rhetorisch schon Erfolg gehabt zu haben. Ghulam Sakhy Nikpai zählt ihm zwar auf, dass seine Leute das dreckige Flusswasser trinken müssten, Benzin für die beiden grünen Pick-ups fehle, die sie seit der Ausbildung durch die europäische Polizeimission Eupol haben, dass sie keine Munition und kein Guthaben für die Satellitentelefone der Patrouillen hätten. Aber der 49-Jährige fügt schnell an: „Das ist nicht Ihre Schuld.“ Vielmehr sei es so, dass „die, die dafür verantwortlich sind, nicht ordentlich arbeiten“. Er meint seine Regierung. Was mag das wohl in anderen Distrikten bedeuten, wo es nicht so ruhig ist wie im Bamiantal?

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