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Afghanistan: Opfer: Woher kommen die unterschiedlichen Zahlen?

Bei dem Nato-Angriff in Afghanistan wurden laut einem Bericht deutlich mehr Menschen getötet, als das Bundesverteidigungsministerium bisher angibt. Wie kommt es zu den unterschiedlichen Darstellungen?

Von Michael Schmidt

Eigentlich kann nur eine Seite recht haben: Verteidigungsminister Franz Josef Jung - oder die Kritiker des von der Bundeswehr veranlassten Luftangriffs aufseiten der EU, der Nato und der Internationalen Schutztruppe Isaf. Doch der Druck auf Jung wächst, spätestens seit dem Bericht der "Washington Post", der von erheblich mehr Todesopfern bei der Bombardierung zweier von den Taliban gekaperter Tanklastwagen in Nordafghanistan ausgeht.

Was genau steht in dem Bericht?
Nach ersten Ergebnissen eines Nato-Untersuchungsteams seien bei dem Luftangriff etwa 125 Menschen getötet worden, davon mindestens zwei Dutzend Zivilisten. In dem Bericht der "Washington Post", deren Reporter mit dem siebenköpfigen Nato-Untersuchungsteam unter US-General Stanley McChrystal am Ort des Geschehens war, werden der Bundeswehr und ihrem Kommandeur in Kundus, Oberst Georg Klein, schwere Verfehlungen vorgeworfen. Der Entscheidung, die am Donnerstagabend entführten Tanklaster in der Nacht zu Freitag zu bombardieren, habe neben der Luftaufklärung nur eine einzige Quelle - ein über Telefon verbundener Afghane - zugrunde gelegen. Am nächsten Tag dann habe Klein das Erkundungsteam davon abhalten wollen, sowohl den Ort des Bombardements als auch das Krankenhaus in Kundus zu besuchen, wo Verletzte des Vorfalls behandelt werden. Beides sei "zu gefährlich", habe er der Nato-Abordnung gesagt. Weiter heißt es, die Bundeswehrsoldaten seien nicht noch in der Nacht zum Ort des Bombenabwurfs im Kundus-Fluss geeilt, um mögliche Überlebende zu bergen. Stattdessen hätten sie nach Sonnenaufgang ein unbemanntes Flugzeug geschickt, um Fotos zu machen. Erst gegen Mittag seien die ersten deutschen Soldaten am Fluss eingetroffen.

Was sagt der Verteidigungsminister?
Franz Josef Jung (CDU) bleibt bei seiner Version, es seien 58 Menschen gestorben, darunter keine Zivilisten. Ministeriumssprecher Thomas Raabe wies die Darstellung von bis zu 125 Toten zurück. "Die Zahlen sind absolut nicht nachvollziehbar", sagte er dem Tagesspiegel. Seine Gespräche mit Nato- und Isaf-Sprechern in Afghanistan hätten "keine Evidenz für getötete Zivilisten ergeben", auch wenn es Verletzte gegeben habe. Wer aber, wie der französische Außenminister Bernard Kouchner, "in einem Schreibtisch in Stockholm sitzend" das Vorgehen der Bundeswehr als "einen großen Fehler" kritisiere, urteile "bar jeder Kenntnis der Situation vor Ort". Das Geschehen sei in der Nacht zu Freitag längere Zeit beobachtet und "mehrere Aufklärungsmittel" dabei verwendet worden. Die von zwei F-15-Kampfjets ins deutsche Hauptquartier gelieferten Bilder hätten die auf einer Sandbank im Fluss steckengebliebenen Laster gezeigt, "Leute mit Waffen", "Sympathisanten, die geholt" und andere Menschen, die zurückgeschickt worden seien. Ein afghanischer Informant habe am Telefon versichert, dabei handele es sich ausschließlich um Aufständische. Oberst Klein sagte dem Nato-Aufklärungsteam später, die Angaben der Luftaufklärung und der afghanischen Quelle hätten sich "zu 100 Prozent" gedeckt. Er habe die Gefahr gesehen, dass die Taliban die entführten Tanklaster als Sprengwaffe nutzen und Polizeistationen oder sogar das deutsche Feldlager damit angreifen könnten. Um 2.30 Uhr nachts habe er den Befehl zum Angriff gegeben, zwei Minuten später hätten die F-15-Piloten die 500-Pfund-Bomben abgeworfen. Angesichts der Bedrohung, der "unermesslichen Gefahr" für das in unmittelbarer Nähe liegende deutsche Lager und mit den zur Verfügung stehenden Informationen sei das Vorgehen "richtig" gewesen, sagte Ministeriumssprecher Raabe. Jetzt werde man "mit Nachdruck" die Untersuchung durch die Nato unterstützen und ihr Filme, Bänder und Informationen der eigenen Aufklärung zur Verfügung stellen.

Warum fällt die internationale Kritik am deutschen Vorgehen so einhellig und massiv aus?
Der Verdacht liegt nahe, dass es sich um eine Retourkutsche halten könnte. Kritik am - zurückhaltenden, an zahlreiche Bedingungen und Vorbehalte geknüpften - deutschen Engagement gibt es seit langem. Die Bundeswehr, so der Vorwurf, übernehme den ruhigen Norden - und fordere dann die Amerikaner im viel umkämpfteren Süden auf, sie sollten sich ein Beispiel an ihrem Vorgehen nehmen. Das ist nicht gut angekommen. Und es hat innerhalb des Nato- Bündnisses zuweilen für Unmut gesorgt, wenn die Deutschen allzu laut Kritik etwa an US-Luftschlägen übten, denen afghanische Hochzeitsgesellschaften zum Opfer fielen. Jetzt, so ein Gedanke, den allerdings kaum einer laut ausspricht, nutze man die Gelegenheit, den deutschen Saubermännern vorzuhalten, dass sie sich auch mal die Hände schmutzig gemacht haben. Richtig ist in jedem Fall: Das Ganze kommt zur Unzeit. Gerade haben USA und Nato ihre taktischen Prioritäten geändert. Die neue Direktive sieht vor, dass nicht die Zahl getöteter Aufständischer wichtig sei, sondern der Schutz von Zivilisten. Für den stellvertretenden Fraktionschef der Grünen, Jürgen Trittin, ist daher "völlig unerklärlich", warum sich die Bundeswehr nicht an den neuen Leitlinien orientiere. Zu denen gehöre im Fall von Zwischenfällen mit afghanischen Nicht-Kombattanten auch die Regel: "Entschuldigen, Wiedergutmachung leisten, untersuchen." Während US-General Stanley McChrystal genau das getan habe, mit seiner Videobotschaft ans afghanische Volk, mit dem Besuch des Krankenhauses und der Untersuchung des Tatorts, widerspreche das Vorgehen Jungs dieser Vorgabe - und sei nicht geeignet, das Vertrauen der Afghanen in den Bundeswehreinsatz wiederherzustellen. Mitarbeit: Hans Monath

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