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Afghanistan: Schande zählt noch etwas - und Rache

Blut aus dem Mund, Wunden im Fleisch. Zuhra, 20, wurde von ihrem Mann geprügelt, dann lief sie fort – und kam in eins von fünf afghanischen Frauenhäusern. Es ist für sie eine Zeit im Nichts. Aber sie lebt.

Am Tag der Hochzeit stand plötzlich ein anderer Mann vor Zuhra. Sie war ihrem Verlobten einmal vorgestellt worden. Damals hatte sie einen kleinen, etwas rundlichen Jungen gesehen, nicht viel älter als sie selbst. Man hatte ihr ein gutes Leben mit ihm versprochen, und sie hatte es geglaubt. Und jetzt war da ein großer, hagerer Mann um die 30. Ein Fremder.

Das war vor zwei Jahren. Zuhras Vater hat noch versucht, die Hochzeit zu verhindern. Hat gesagt: Das ist nicht der Junge, von dem wir gesprochen haben! Aber er hatte schon das Brautgeld angenommen, zweieinhalb Lac Afghani, fast 5000 Dollar, und er hatte seiner Tochter Schmuck gekauft, wie der Brauch es vorsieht. Dann gib uns unser Geld zurück, hatte Zuhras neue Schwiegervater gesagt, ein wenig spöttisch. Aber der Vater konnte das Geld nicht zurückgeben. Er ist kein reicher Mann. Die Hochzeit fand statt.

Zuhra ist 20 Jahre alt, eine kleine Person, schmal, ganz in Schwarz, eine weite Bundfaltenhose, eine lange Jacke darüber. Sie hat ein rundes Gesicht mit fröhlichen braunen Augen, die sie noch jünger aussehen lassen. Die Fakten ihrer Ehe erheben sich aus ihrem Mund nicht zu Anklagen. Sie bleiben flach und nüchtern. Mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen. Blut aus dem Mund. Wunden auf dem Rücken und immer so weiter. Zuhra sitzt da mit im Schoß gefalteten Händen und dem Dauerlächeln des wohlerzogenen Mädchens.

Vor einem Jahr ist Zuhra ihrem Mann davongelaufen. Zu dem Zeitpunkt hatte er sie monatelang fast täglich geschlagen, „mit allem, was er in die Hände bekam“, sagt sie. Mit Teegläsern, Besen, Spaten.

Zuhra erzählt das im Garten des Chane Amin, des „Sicheren Hauses“ in Masar-i-Scharif, Nordafghanistan. Es ist nicht erlaubt zu schreiben, wie dieses Haus aussieht oder wo es liegt. Es ist schon gar nicht erlaubt, Fotos zu machen von Zuhra und den anderen Mädchen. Es ist erlaubt, zu sagen, wie jung sie alle wirken. 29 Frauen leben derzeit hier. Die Älteste ist 26. Zwei sind 14. Fünf haben Depressionen. Sie weinen tagelang, sie essen nicht, schlafen nicht oder bekommen keine Luft, sagt die Ärztin im Haus. Sie haben Heimweh. Es ist eine irrationale Sehnsucht, nach einer Familie, die sie niemals gut behandelt hat. Aber die Prägung auf die familiären Strukturen ist so stark, das Alleinsein so schmerzhaft, als hätte man ihnen etwas amputiert.

Es gibt fünf Frauenhäuser in Afghanistan. Zwei in Kabul, eines in Herat im Westen, zwei in Masar-i-Scharif im Norden. Sie werden betrieben von drei kleinen Nichtregierungsorganisationen. Es ist eine verschwindend kleine Zahl für ein Land, in dem mindestens 13 Millionen Frauen leben und hunderttausende misshandelt werden. Es ist gleichzeitig eine große Zahl für das überwältigende Misstrauen, mit dem Frauenhäuser hier betrachtet werden.

Das Frauenhaus in Masar-i-Scharif wird von CCA geführt, dem Cooperation Center for Afghanistan. Sein Direktor, Hamid Safwat, 36, ein kleiner Herr mit feingeschnittenem Gesicht und Schnurrbart, hat zu Talibanzeiten verschlüsselte Berichte über Menschenrechtsverletzungen ins Ausland geschmuggelt. Nach dem Krieg hat er in einer Untersuchungskommission gesessen und Opfer gezählt. Opfer aller Seiten. Kinder, Taliban, Soldaten, Frauen. „Die Frauen“, sagt er, „schienen mir die Einzigen, die keinen, aber auch gar keinen Schutz haben.“

2007 hat CCA ein Frauenhaus eröffnet und einen Frauenhaus-Rat gebildet, in dem die bedeutendsten Bürger von Masar sitzen: der Polizeichef, der Distriktrichter, ein Repräsentant des Gouverneurs und andere Honoratioren der Stadt, der Vorsteher des Heiligen Schreines ist dabei. Mit dem Rat beugt Hamid Safwat dem Misstrauen vor. Frauen holt man in Afghanistan nicht aus den Familien heraus. Man behält sie drin. Hinter verschlossenen Türen. Die Regierung hat schon ein Frauenhaus dichtgemacht.

Die Mädchen im Frauenhaus haben täglich Unterricht. Sie lernen Lesen und Schreiben, sie lernen Nähen, sie lernen, wie das Auge schaut und das Ohr hört. Es geht darum, ihnen einen Begriff von der Welt zu vermitteln. Es ist aus westlicher Sicht eine enge Welt, voller schwarz- weiß gemalter Rollenbilder. „Männer kann man nicht ändern“, sagt Ruqia, die Vorsteherin des Frauenhauses, also versuchten sie nun, die Frauen zu ändern. Sie stärker zu machen für die Zeit, wenn sie in ihre Familien zurückgehen.

Das ist die Option, die die Angestellten im Frauenhaus für ihre Klientinnen auszuhandeln versuchen: zurück in die Familie. Oder Hochzeit mit einem anderen Mann. Wenn es geht, wird die Rechtsanwältin des Frauenhauses eine Scheidung erwirken. Wenn es geht, findet das Frauenhaus einen neuen Mann für sie. Beim Gericht in Masar liegt eine Liste von Männern, die daran interessiert sind, Frauenhausfrauen zu heiraten. Heiraten ist sehr teuer in Afghanistan. Die Männer haben nicht genug Geld für eine „normale“ Frau. Unabhängig werden diese Frauen niemals sein.

„Für uns Westler sind diese Lösungen natürlich gar nicht befriedigend“, sagt Endy Hagen. „Aber für Afghanistan ist es ein revolutionäres Konzept. Das muss man sehen und behutsam damit sein.“

Endy Hagen, 52, ist Entwicklungshelferin aus Berlin, eine kleine Frau mit weißem Haar, das ihr Respekt einträgt, Temperament und einer lebhaften Erinnerung an die Kämpfe um die deutschen Frauenhäuser in den 70er Jahren. Der Deutsche Entwicklungsdienst (DED) hat sie vor einem halben Jahr zu CCA geschickt. Sie soll die Organisation unterstützen und Wissen darüber vermitteln, wie man Konflikte gewaltfrei angeht. „Dass man eben“, sagt Endy Hagen, „Probleme in der Familie anders lösen kann, als die Frau zu verprügeln.“

Auf dem Papier immerhin hat sich im vergangenen Jahr einiges getan, das Hochzeitsalter wurde von neun auf 16 Jahre heraufgesetzt, es gibt ein Recht der Frau auf Scheidung, wenn der Mann abwesend oder im Gefängnis ist, außerdem wurde ein „Gesetz zur Eliminierung der Gewalt gegen Frauen“ verabschiedet. Es sind allerdings Rechte, die kaum eingefordert oder gar eingeklagt werden, weil Frauen sich männlichen Polizisten nicht anvertrauen oder von ihnen nicht ernst genommen werden und viele Juristen die Gesetze nicht kennen. Gleichzeitig limitierte Präsident Hamid Karsai mit einem neuen Gesetz de facto die Zahl der Frauen im Parlament, und die afghanische Menschenrechtskommission meldet einen rasanten Anstieg von häuslicher Gewalt. Um 40 Prozent, heißt es. Das ist allerdings für Interpretationen offen. Möglicherweise liegt es daran, dass Menschen und Behörden sensibler sind und Missbrauch öfter melden. Oder es liegt daran, dass sich die Sicherheitslage stark verschlechtert hat, dass die Taliban zurückkehren, die Lebensmittel knapper sind denn je, die Jobs rar. All das schlägt schnell auf die Schwachen durch. Womankind Worldwide, eine britische Organisation, hat 2008 folgende Zahlen veröffentlicht: 80 Prozent der afghanischen Frauen seien von häuslicher Gewalt betroffen, 60 Prozent der Ehen seien erzwungen, und die Hälfte aller Mädchen werde verheiratet, bevor sie 16 seien.

Endy Hagen sagt: „Die, die es ins Frauenhaus schaffen, sind eine sehr glückliche Minderheit.“

Im Büro, das in einem anderen Stadtteil liegt, ist an diesem Tag viel los. Auf den teppichbezogenen, staubigen Stufen vor dem alten Haus stehen Dutzende Paar Schuhe, die Gummilatschen der Männer und die mit viel Glitzerkram verzierten Schühchen der Frauen. Oben hockt die Familie eines Opfers. Es geht um eine gebrochene Verlobung, Mutter und Tochter haben die Burka über dem Kopf zurückgeschlagen; das Mädchen ist sehr hübsch, rotwangig, große braune Augen, schwarze Locken. Der Vater hockt auf den Fersen neben ihr. Sie sprechen sehr leise. Sie wirken nicht aggressiv, aber die Eltern sind durchsucht worden, bevor sie ins Haus durften. Es hat Angriffe gegeben. Neulich hat wieder jemand versucht, ein Messer ins Haus zu schmuggeln. Die Sozialarbeiterinnen bekommen Drohanrufe. Sie träumen schlecht. Ruqia, die Vorsteherin, hat manchmal solche Rückenschmerzen, dass sie ein wenig gebeugt gehen muss. Der Druck ist stark auf die, die wagen, traditionelle Strukturen anzuzweifeln.

Aber es ist nicht nur eine anstrengende Arbeit. Es ist auch eine Arbeit ohne Ehre. Sie katapultiert die Frauen, die hier arbeiten, aus dem Schutzraum der „anständigen Frau“ hinaus. Ruqia erzählt, wie die Nachbarn tuscheln, wenn sie zu einem Fest kommt. Das ist die, die im Frauenhaus arbeitet. Die die kriminellen Mädchen beschützt. Vor einigen Wochen war eine hohe Untersuchungskommission aus der Hauptstadt da. Ein Brief war bei Präsident Karsai eingetroffen, in dem sinngemäß stand, es handele sich bei diesen Häusern doch sowieso nur um verdeckte Hurenhäuser.

Im dämmrigen kühlen Kellerraum bietet eine Organisation einen Kurs an zum Thema „Seelische Gesundheit“. 20 Frauenhaus-Frauen sitzen schulmädchenbrav um einen langen Tisch. Sie gucken schweigend auf die Tischplatte. Die Trainerin fragt nach ihrer Meinung. Was, meint ihr, sind Gründe für Traurigkeit? Die Antworten sind einsilbig. Ein schlechter Vater. Ein schlechter Onkel. Detaillierter wird es nicht. Aus Scham. Über das, was war. Und das, was ist. Für afghanische Mädchen ist der Aufenthalt im Frauenhaus wie eine Zeit im Nichts. Keine Kinder, kein Haus, keine Töpfe, kein Hochzeitsschmuck, der vorzuzeigen wäre. Alles, was in ihrer Welt Stabilität gewährleistet, ein Gesicht, eine Existenz, hat sich aufgelöst, hat sie betrogen und alleine zurückgelassen. Zusammen mit der Schuld. Du bist vergewaltigt worden? Du musst ein schlechtes Mädchen sein. Du bist geschlagen worden? Du wirst schon was angestellt haben.

Acht Selbstmordversuche hat es in den vergangenen zwei Jahren im Haus gegeben.

Die drei Sozialarbeiterinnen von CCA sprechen oft und lange mit den Mädchen, um ihnen das Selbstbewusstsein zurückzugeben. Sie sprechen auch viel mit den Angehörigen, bevor sie die Mädchen zurücklassen in die Familie. Sie wollen ein Gefühl dafür vermitteln, dass es nicht am Mädchen lag, wenn es vergewaltigt oder geschlagen wurde, wollen den Generalverdacht dem Opfer gegenüber mindern.

Die Honoratioren aus der Frauenhaus-Kommission üben ebenfalls Druck auf die Familien aus, und ihr Wort gilt in der patriarchalisch geordneten afghanischen Gesellschaft. Die Abmachung lautet: keine Schläge mehr, keine Vergewaltigung, keine Zwangshochzeit, wenn das Mädchen zurück ist. Niemand soll sie „dochtare farari“ nennen, das Mädchen, das weggelaufen ist. Es ist ein Schimpfwort, gleichermaßen beschämend für die Familie. Es bedeutet: Irgendwas ist verdorben an euch, wenn ihr eine faule Frucht wie diese da hervorbringt.

CCA macht auch Kontrollbesuche. Aber die Leute haben es hier, sagt Ruqia und legt eine Hand auf die Brust. Sie vergessen nicht. Ehre ist nur schwer zu kitten. Die Schande eines Mädchens ist die Schande aller, und weil Schande in Afghanistan noch etwas bedeutet, bedeutet auch Rache noch etwas. Es ist das Prinzip der Sippenhaft. Der Ehrenmorde. Es ist die Gefahr, der sich die jungen Frauen aussetzen, sobald sie versuchen, sich der Gewalt zu entziehen. Und es ist das Risiko, das CCA eingeht, wenn sie die Mädchen in die Familien zurückschicken.

Die Frauenhäuser sind in der Kritik deswegen. Es gibt internationale Geber, die sie nicht unterstützen wollen. Sie sagen: Kann man die Natur eines Schlägers durch Reden verändern? Es ist eine gute Frage. Aber auch eine arrogante, findet Endy Hagen. „Was ist die Alternative? Zulassen, dass die Frauen totgeschlagen werden?“ Es brauche eben Zeit, wahnsinnig viel Zeit.

Die Trainerin aus dem Kurs über seelische Gesundheit spricht vorne davon, dass Frauen nicht so hohe Erwartungen an ihre Männer haben sollten. Das gebe doch nur Krieg im Haus. Endy Hagen liefe wieder rosarot an, würde sie das hören. Zuhra schaut ausdruckslos.

Die Verhandlungen mit der Familie ihres Ehemannes laufen nicht gut. Die Familie beharrt darauf, ihr Brautgeld zurückzubekommen. In bar. Zuhra sagt, der Schmuck, den ihr Vater von dem Geld gekauft habe, sei im Haus geblieben, man müsse doch nur den Schmuck verkaufen, dann sei das Geld wieder da. Es ist das einzige Mal, dass sie im Gespräch etwas lebhafter wird und das Dauerlächeln verschwindet. Sie strafft den Rücken und hebt die Hände aus dem Schoß. Die Familie ihres Mannes beschuldigt Zuhra, sie habe den Schmuck gestohlen. Man hat Zuhra die Wahl gelassen: Du gibst das Geld zurück. Oder du heiratest einen anderen Mann aus unserer Familie. „Mein Eindruck von dieser Familie ist aber nicht so gut“, sagt Zuhra höflich. Sie ist nun seit acht Monaten hier.

Die Autorin ist derzeit für den DED in Afghanistan tätig.

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