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Echelon - das Spionagenetzwerk, an dem die USA und Großbritannien beteiligt waren, gab es bereits seit den 1970er Jahren. Diese Aktivitäten sind längst bekannt.

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Ahnungslos oder unehrlich?: Was die Bundesregierung über die Spionageaktivitäten wusste

Amerikaner und Briten haben seit den 1970er Jahren ein umfassendes Spionagenetzwerk in Deutschland. Das Ausmaß ist lange bekannt. Prism und Tempora sind nur Nachfolgeprogramme von Echelon. Wenn Merkel sagt, sie habe von den Spionageaktivitäten nichts gewusst, hat ihre Kommunikation versagt. Oder sagt sie nicht die ganze Wahrheit?

In der medialen Hysterie um die Überwachungsprogramme Prism und Tempora wird vergessen, dass es bereits seit den 1970er Jahren ein Spionagenetzwerk gab, an dem die USA und Großbritannien beteiligt waren. Der Name: Echelon. 2001 befasste sich ein Ausschuss des Europäischen Parlaments mit dem Geheimdienstnetzwerk. Eine Analyse von Bundestagdokumenten belegt, dass die Aktivitäten schon länger bekannt waren.

Edward Snowden hat mit seinen brisanten Enthüllungen über die Geheimdienstprogramme Prism und Tempora ein politisches Erdbeben ausgelöst. Sollten die Vorwürfe abgehörter Telefonate, durchforsteter E-Mails und verwanzter Büros in Brüssel stimmen, würden sie die Regierungen in London und Washington in arge Erklärungsnöte bringen. Auch die Rolle Deutschlands ist fragwürdig. Was wusste der BND? Vor allem: Was wusste das Kanzleramt?

Die Bundesregierung verweist in ihren kargen Antworten immer wieder auf die Zuständigkeit des Parlamentarischen Kontrollgremiums (PKGr). Dieses Gremium ist kraft Gesetz für die Überwachung der Nachrichtendienste zuständig. Doch der Tätigkeitsrahmen ist sehr begrenzt. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele sagte einmal, wenn er etwas sagen könnte, dann dürfe er es nicht. Die Informationen sickern nur tröpfchenweise durch. Die Geheimhaltungspflichten dieses obskuren Gremiums behindern eine effektive Aufklärung.

Ein Problem ist auch, dass die Zusammenarbeit deutscher Dienste beispielsweise mit dem russischen Geheimdienst in Bereichen vereinbart wurde, die überhaupt nicht vom gesetzlichen Auftrag des Bundesnachrichtendienstes, „Informationen von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland“ zu sammeln, gedeckt sind. Offenbar gibt es eine umfangreiche rechtliche Grauzone, in der Geheimdienste operieren. Die Frage ist: Wie geheim dürfen Geheimdienste sein? Es ist das Grundproblem einer freien Gesellschaft: Die Demokratie fußt auf den Prinzipien der Öffentlichkeit und Transparenz, während Nachrichtendienste der Geheimhaltung und Verschwiegenheit verpflichtet sind. Das passt nicht zueinander, und schon Aristoteles warf die Frage auf: „Wer bewacht die Wächter?“

Ausländer sind keine Grundrechteträger im Sinne der Informationsfreiheit

Vor dem Bundesverfassungsgericht führten die Beschwerdeführer um den Hamburger Rechtsprofessor Michael Köhler 1999 aus, der Bundesnachrichtendienst verwandele sich in eine „Geheimpolizei-Ermittlungsbehörde“. Das verfassungsrechtliche Trennungsgebot von Polizei und Nachrichtendiensten werde aufgeweicht. Wohl gemerkt fand das Verfahren vor den Antiterrorgesetzen im Gefolge der Anschläge vom 11. September 2001 statt. Bereits damals konnte der Geheimdienst bei ausländischen Telefongesprächen über Satellit die Kommunikationsbeziehung ohne jeden Verdacht inhaltlich durchforschen und bei vorkommenden Suchworten aufzeichnen. Vom „elektronischen Staubsauger“ war die Rede. Im Rahmen der „strategischen Kontrolle“ konnten Informationen ganz legal gewonnen werden. Denn: Ausländer sind keine Grundrechteträger im Sinne der Informationsfreiheit.

Ein Dokument belegt nun, dass die Verbindungen zwischen den amerikanischen Geheimdiensten und den parlamentarischen Aufsichtsorganen enger waren, als dies in der Öffentlichkeit zugegeben wird. In einem Tätigkeitsbericht des PKGr vom 8. Juni 2000 (Drucksache 14/3552) heißt es: „Das Parlamentarische Kontrollgremium hat am 30. Mai 2000 die US-Station des amerikanischen Nachrichtendienstes National Security Agency (NSA) im bayerischen Bad Aibling besucht.“ Ein Besuch unter lauschenden Freunden, auf Einladung der Amerikaner. „Die Besuchsmöglichkeit wurde dem Kontrollgremium als Ausdruck der deutsch-amerikanischen Partnerschaft und des Vertrauens eröffnet, um ihm vor Ort einen unmittelbaren Einblick und Überblick über die Tätigkeit in Bad Aibling zu verschaffen.“

Fakt ist: Die US-Abhöranlagen wurden von Deutschland aus betrieben.

Echelon - das Spionagenetzwerk, an dem die USA und Großbritannien beteiligt waren, gab es bereits seit den 1970er Jahren. Diese Aktivitäten sind längst bekannt.
Echelon - das Spionagenetzwerk, an dem die USA und Großbritannien beteiligt waren, gab es bereits seit den 1970er Jahren. Diese Aktivitäten sind längst bekannt.

© dpa

Bad Aibling in Bayern ist einer von vielen Horchposten, die im Kalten Krieg entlang der deutsch-deutschen Grenze gebaut wurden. Insgesamt unterhielt die NSA schätzungsweise 18 Einrichtungen in der Bundesrepublik. Die Anlagen wurden streng bewacht. Die Aktionen blieben geheim, die Mitarbeiter anonym. 2004 wurde Bad Aibling offiziell geschlossen. Inoffiziell betreibt der BND, der dort schon früher Mieter war, die Station weiter, allerdings mit Hilfe einer kleinen Abordnung der NSA. Der amerikanische Geheimdienst bestreitet die Präsenz. Und die deutschen Behörden hüllen sich in Schweigen.

Fakt ist: Die US-Abhöranlagen wurden von Deutschland aus betrieben. Darin könnte man zunächst eine Verletzung der Souveränitätsrechte erblicken. Die Staatsanwaltschaft München nimmt an, dass die Bundesregierung eine völkerrechtliche Gestattung für den Standort erteilt hat (Az.: 60 UJS 7700/01). Dies wiederum setzt voraus, dass sie Kenntnis von den Aktivitäten hatte. Im April 2000 gibt die Regierung zu: „Diese Station wird zur Erfassung militärischer Hochfrequenz- und Satellitenverkehre betrieben, die für die außen- und sicherheitspolitische Lage der Vereinigten Staaten von Amerika sowie ihrer europäischen Partner von Relevanz sind. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse werden im Übrigen auch dem Bundesnachrichtendienst zur Verfügung gestellt.“ Der BND profitierte also auch von US-Geheimdienstinformationen. Weiter heißt es in dem Dokument: „Von amerikanischer Seite ist mehrfach versichert worden, dass von Bad Aibling keine gegen die Interessen der Bundesrepublik Deutschland gerichteten Aktivitäten ausgehen. Die Bundesregierung hat keinen Anlass, an diesen Versicherungen zu zweifeln.“

Das Ausmaß von Echelon war bereits 2000 bekannt

Vielleicht hätte sie doch zweifeln müssen. Offenbar haben die USA auch deutsche Ziele ausspioniert. War der BND naiv? Oder duldete er gar die Schnüffelei? Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, heißt es. Die Brisanz liegt darin, dass Bad Aibling das große Ohr des flächendeckenden Abhörsystems Echelon war, an dem unter anderem die NSA und der GCGQ beteiligt waren. Dieses Programm wurde als satellitengestütztes System zum Abfangen von Kommunikationsinhalten konzipiert. Telefonate, Fax und E-Mails wurden rastermäßig gesammelt und ausgewertet.

Das Ausmaß von Echelon war bereits durch eine vom Europäischen Parlament in Auftrag gegebene Studie im Februar 2000 bekannt (sogenannte STOA-Berichte). Demnach wurde mit dem Echelon-System nicht nur Wirtschaftsspionage betrieben, sondern auch die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger massiv verletzt. Der 192 Seiten umfassende Bericht kommt zu dem Ergebnis: „Die Situation in Europa erscheint für den europäischen Bürger wenig zufriedenstellend. (…) Ausländischen Systemen ist der Einzelne relativ wehrlos ausgeliefert, das Schutzbedürfnis ist hier noch größer. Es darf auch nicht vergessen werden, dass aufgrund des besonderen Charakters von Nachrichtendiensten EU-Bürger von der Tätigkeit mehrerer Nachrichtendienste gleichzeitig betroffen sein können.“

Wayne Madsen, ein ehemaliger NSA-Mitarbeiter, der vor dem Ausschuss aussagte, zeigte sich wenig später bei seinem Treffen mit der Ausschussdelegation in Washington „besorgt“ über die Gefahr, die das globale Spionagesystem für die Privatsphäre europäischer Bürger bedeutet. Seinen Aussagen zufolge sammelte die NSA schon in den 1990er Jahren 1000 Seiten Informationsmaterial zu Prinzessin Diana, weil deren Kampagne gegen Landminen die US-Politik konterkarierte.

Der Echelon-Ausschuss sah im Übrigen auch Sicherheitslücken bei der Europäischen Kommission: „Heute schon kann festgestellt werden, dass die Verschlüsselungssysteme, mit denen die Kommission mit Teilen ihrer Außenbüros kommuniziert, veraltet sind (…) Die Einführung eines auf der Basis von verschlüsselter E-Mail arbeitenden neuen Systems ist dringend geboten.“ Natürlich konnte niemand mit der Ausspähung eines Verbündeten rechnen. Doch die Empfehlungen des Ausschusses, das Informationssystem auf den neuesten Stand der Technik zu bringen, wurden ignoriert.

In dem 1996 veröffentlichten Buch des neuseeländischen Autors Nicky Hager „Secret Powers – New Zealand’s role in the international spy network“ wird erstmals das System Echelon ausführlich beschrieben. Danach wurde bereits in den 70er Jahren angefangen, durch Bodenstationen, die via Intel-Satelliten – dem ersten globalen Satelliten-Kommunikationssystem – gesendete Nachrichten abzuhören. Die Praxis ist also schon Jahre lang bekannt. Nur darüber reden wollte keiner.

In einem 60-minütigen Interview mit dem Fernsehsender NBC sagte Mike Frost, ehemaliger Agent beim kanadischen Geheimdienst CSE: „Echelon deckt alles ab, was (an Wellen) ausgestrahlt wird, zu jedem beliebigen Zeitpunkt. Jeder Zentimeter wird ausgeleuchtet.“ Das transkribierte Interview liest sich wie ein Agententhriller. Frost behauptete, dass das CSE auf Bitten Margaret Thatchers in den 80er Jahren zwei nicht linientreue Minister ausspähte. „Sie wollte nicht herausfinden, was die Minister sagten, sondern was sie dachten.“ Die Eiserne Lady als kontrollwütige Regierungschefin. „Das britische Parlament wusste davon nichts“, sagte Frost. Gefälligkeiten unter Bundesgenossen. „Dirty work“ nennen das Insiderkreise. Der britische Geheimdienst hätte freilich nicht die Befugnis gehabt, die eigenen Minister zu überwachen. Darum ersuchte er das CSE. Durch die Amtshilfe eines ausländischen Nachrichtendienstes konnte die parlamentarische Kontrolle ausgehebelt werden.

„Die Existenz eines weltumspannenden Abhörsystems erscheint schlüssig“

Echelon - das Spionagenetzwerk, an dem die USA und Großbritannien beteiligt waren, gab es bereits seit den 1970er Jahren. Diese Aktivitäten sind längst bekannt.
Echelon - das Spionagenetzwerk, an dem die USA und Großbritannien beteiligt waren, gab es bereits seit den 1970er Jahren. Diese Aktivitäten sind längst bekannt.

© dpa

Offenbar gibt es nicht nur einen Informationsaustausch zwischen Nachrichtendiensten, sondern auch konzertierte Aktionen im operativen Geschäft. Die Geheimdienste sind eine gigantische Blackbox. Edward Snowden sagte in einem Interview mit dem „Spiegel“, Deutschland stecke mit der NSA unter einer Decke. Gewiss, die Behauptung ist noch nicht belegt. Doch sie wirft Fragen auf: Wie stark sind die Geheimdienste untereinander vernetzt? Wer kontrolliert hier eigentlich wen?

Auf eine kleine Anfrage der FDP antwortete die rot-grüne Bundesregierung am 17. April 2000: „Die Bundesregierung geht davon aus, dass es insbesondere zu Zeiten der Ost-West-Konfrontation eine Zusammenarbeit mehrerer englischsprachiger Länder bei der elektronischen Fernmeldeaufklärung unter der Bezeichnung Echelon gegeben hat. Über den gegenwärtigen Stand dieser Zusammenarbeit hat die Bundesregierung keine genauen Erkenntnisse.“ Die Bundesregierung stritt die Existenz von Echelon nicht ab, bejahte sie sogar. Wieso sollte dieses Programm in der Zwischenzeit eingestellt worden sein?

„Die Existenz eines weltumspannenden Abhörsystems erscheint schlüssig“

Nach dem Kalten Krieg wuchs die Gefahr von Terrorismus und organisierter Kriminalität. Es ist kaum vorstellbar, dass die Geheimdienste angesichts der Bedrohungslage auf ein solches Netzwerk verzichten würden. Die Infrastruktur lag ja bereit. Die wachsweiche Antwort „keine genauen Erkenntnisse“ lässt Raum für Spekulationen.

Der FDP-Abgeordnete Hans-Joachim Otto bohrte 2001 nach und fragte die Bundesregierung, ob die STOA-Studie zuträfe. Die Antwort des Innenstaatssekretärs Claus Henning Schapper (SPD) vom 8. Juni 2001: „Die (…) Einschätzung zur Existenz eines von den USA, Kanada, Großbritannien, Neuseeland und Australien betriebenen weltumspannenden Abhörsystems erscheint schlüssig.“ Noch in dem Echelon-Ausschuss des Europäischen Parlaments 2000 hatte der damalige Geheimdienstkoordinator Ernst Uhrlau dieses als „Humbug“ bezeichnet.

Die Exekutive verheddert sich immer wieder in Widersprüche – und kommt ihrer Aufklärungspflicht nur unzureichend nach. Echelon läuft weiter, nur dass eben Satelliten-Sigint (Signals Intelligence), die Fernmelde- und elektronische Aufklärung der NSA, heute viel weniger bringt als noch vor zehn Jahren. Darum Prism und Tempora.

Der Geheimdienstexperte Erich Schmidt-Eenboom sagte dem ZDF: „Sowohl der Bundesnachrichtendienst als auch das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik sind sehr genau darüber unterrichtet, mit welchen Mitteln, mit welchem Ansatz die NSA Spionage betreibt. Damit sind auch die vorgesetzten Dienststellen, das heißt das Bundeskanzleramt und der Bundesinnenminister, sehr genau unterrichtet worden.“

Wenn Kanzlerin Angela Merkel nun sagt, sie habe von den Spionageaktivitäten nichts gewusst, lässt diese Aussage eigentlich nur zwei Schlüsse zu: Entweder hat die Kommunikation im Kanzleramt versagt. Oder Merkel hat der Öffentlichkeit nicht die ganze Wahrheit gesagt.

Adrian Lobe

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