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AKP-Verbotsverfahren: "Die Türkei hat ein Mentalitätsproblem"

Die regierende Partei in der Türkei, die AKP, soll verboten werden. Ihr wird vorgeworfen, einen islamischen Gottesstaat errichten zu wollen - ein berechtigter Vorwurf oder nur ein erneuter Putsch des Militärs mit anderen Mitteln? Tagesspiegel.de hat mit Cemal Karakas von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) gesprochen.

Wie beurteilen Sie die Haltung der türkischen Justiz im aktuellen AKP-Verbotsverfahren? Rechnen Sie mit einem Verbot der Partei?

Es zeichnet sich ab, dass es zu einem Verbot der Partei kommen wird. Man muss schauen, wie juristisch wasserdicht die Begründung ist, ob man der AKP tatsächlich demokratiefeindliche Tendenzen nachweisen kann. Ihr wird unterstellt, dass sie eine versteckte islamistische Agenda hat, welche aus der Türkei sukzessive eine islamische Republik machen soll, wie es sie heute etwa im Iran gibt.

Ist dieser Vorwurf berechtigt?

Es gibt innerhalb der Partei unterschiedliche Strömungen. Es gibt moderate Parteigrößen wie Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und Präsident Abdullah Gül auf der einen Seite. Und es gibt auf der anderen Seite lokale Parteifunktionäre, die von einer grünen islamischen Revolution sprechen. Und das ist natürlich bedenklich. Ob man die ganze AKP für die Meinungen einzelner in Sippenhaft nehmen kann, beziehungsweise das Parteiverbot durchsetzen kann, ist für mich aber fraglich.

Wie bereitet sich die AKP auf ein mögliches Verbot vor?

Wenn die amtierende Regierungspartei verboten wird, wird es Neuwahlen geben. Es gibt daher in der AKP konkrete Überlegungen, ein politisches Auffangbecken zu gründen. Das aber würde nur dann etwas bringen, wenn die wichtigsten Parteigrößen nicht mit einem Politikverbot belegt werden. Sollte es doch zum Politikverbot kommen, müssten die führenden Köpfe der AKP schauen, dass sie möglichst rasch als unabhängige Kandidaten ins Parlament kommen.

Als gemäßigter Wähler in der Türkei hat man nicht wirklich gute Karten: Derzeit hat man nur die Wahl zwischen Nationalisten auf der einen Seite und "Islamisten" auf der anderen Seite.

Das ist leider die Tragik der türkischen Demokratie. Wir haben in der Türkei keine nennenswerten liberalen oder grünen Parteien, sondern nur zwei Hauptströme in der Politik: einen kemalistisch-linksnationalen und einen religiös-konservativen Block. Ein weiteres Problem ist die sehr starke Personenfixierung in der Türkei. Es zählt weniger die Programmatik als vielmehr die Person. Das fing ja schon mit Atatürk an, ging weiter über Inönü, Demirel, Ecevit, Özal und, mit Abstrichen, auch Erdogan.

Welche Rolle spielt Religion in der Türkei?

In meinen Augen haben die Türken kein gesundes Verhältnis zu ihrer Religion. Dafür kann man auch die kemalistische Kulturrevolution verantwortlich machen, die zwar die Säkularisierung und Westanbindung der Türkei förderte, gleichzeitig aber Tür und Tor öffnete für die permanente Politisierung und Instrumentalisierung der Religion. Diese Politisierung, etwa für wahltaktische Zwecke, ging schon in den 50er Jahren los und erreichte in den 90ern ihren Höhepunkt. Ein weiterer Grund ist die Schwäche der türkischen Zivilgesellschaft und die türkische Mentalität, die allzu oft eine soziale Diktatur des Religiösen zulässt.

Ich gebe zwei Beispiele aus dem türkischen Alltag: Wenn die Fastenzeit, der Ramadan, beginnt, fasten interessanterweise oft auch diejenigen, die keine Sunniten sind. Viele Aleviten etwa tun das, weil sie Angst haben, sich als solche zu outen. Auf der anderen Seite fasten viele Türken, ohne den Sinn des Fastens zu verstehen. Viele Türken machen aus der Fastenzeit ein Happening und geben sich abends einer sagenhaften Völlerei hin. Das Kopftuch ist ein anderer Fall. Wenn man Frauen danach befragt, warum sie plötzlich ein Kopftuch tragen, antworten sie häufig: 'Weil es die Nachbarin trägt'. Auch hier gibt es keinen Bezug zum eigenen Glauben, sondern man beugt sich lediglich dem sozialen Diktat, d.h. man will nicht, dass Gerede in der Nachbarschaft aufkommt.

Eine starke und selbstbewusste Zivilgesellschaft, die den Einzelnen oder Minderheiten respektiert, kann den sozialen Druck des Religiösen ausgleichen. Es gibt eben nicht nur ein Recht auf Religion, sondern auch ein Recht auf Freiheit von der Religion.

Hat die AKP mit der Initiative zur Lockerung des Kopftuchverbots eine Stimmung innerhalb der türkischen Bevölkerung aufgegriffen?

Es gibt drei Blöcke von AKP-Wählern. Der erste Block ist die sunnitische Stammwählerschaft, das heißt, die Anhänger der größten Glaubensrichtung in der Türkei. Der zweite Block ist die türkische Wirtschaft. Und der dritte Block ist ein Gemisch aus Liberalen und Anhängern eines EU-Beitritts. Aber auch Anhänger religiöser Minderheiten wie Aleviten und auch Christen haben der AKP ihre Stimme gegeben, weil sie sich von ihr endlich mehr Freiheiten für sich selber, für ihre eigene Gruppe versprechen. Dazu ist es aber leider nur bedingt gekommen, weswegen viele von der AKP enttäuscht sind.

Natürlich hat Erdogan das Recht, auf Wünsche seiner sunnitischen Stammwählerschaft, etwa der Lockerung des Kopftuchverbotes, einzugehen. Doch man muss ihm den Vorwurf machen, dass er dieses Thema politisch und per Verfassungsänderung anstatt in einem gesellschaftlichen Konsens lösen wollte. Er wäre besser beraten gewesen, wenn er die vor der Wahl versprochene Reform der türkischen Verfassung durchgeführt hätte. Die jüngste Initiative zur Lockerung des Kopftuchverbots kam ursprünglich von der nationalistischen Oppositionspartei MHP. Erdogan ist nun in deren "Kopftuch-Falle" getappt.

Es gab im Jahr 2005 unmissverständlich schon einmal ein Urteil des türkischen Verfassungsgerichts, dass die Aufhebung des Kopftuchverbots nicht politisiert oder per Gesetzesänderungen aufgehoben werden darf. Jede Partei, die das trotzdem versucht, würde verboten werden. Anscheinend euphorisiert durch den beachtlichen Wahlerfolg - bei den letzten Parlamentswahlen erreichte die AKP 47 Prozent der Wählerstimmen - dachte die AKP, dass sie jetzt den gesellschaftlichen Rückhalt hat, um mit dem Thema Kopftuch offen umzugehen, doch das war politischer Selbstmord.

Vor einigen Wochen sind sehr viele Leute festgenommen worden, weil sie des Putschversuchs bezichtigt wurden. War das ein Versuch der AKP, die Kontrolle wieder an sich zu reißen?

Die Ermittlungen gegen die nationalistische Untergrundorganisation Ergenekon laufen seit über einem Jahr, es gibt meines Erachtens nur bedingt einen Zusammenhang zum laufenden Verbotsverfahren gegen die AKP. Bemerkenswert an den jüngsten Verhaftungen ist, dass sich darunter auch zwei Vier-Sterne-Generäle befinden. Weder die AKP noch die Istanbuler Staatsanwaltschaft, die die Ermittlungen leitet, hätten meines Erachtens ohne Zustimmung des Militärs eine solche Aktion durchführen können. Ich vermute, dass das türkische Militär Schaden von sich selbst abwenden wollte und der AKP deswegen geholfen hat.

Wer steckt hinter dem Verbotsverfahren gegen die AKP?

Für mich steckt hinter der Anklage der AKP ganz klar das Militär. Es unterstützt das Verbot öffentlich in den türkischen Medien. Jetzt gibt es zwar Leute, die sagen: 'Seid doch froh, es wird nicht mehr geputscht in der Türkei, man geht jetzt den legalen Weg über die Rechtsinstanzen'. Das Verbotsverfahren ist aber nicht vergleichbar mit europäischen rechtsstaatlichen Kriterien. Erst nachdem das Militär Druck ausübt auf die Staatsjustiz, will diese die Regierungspartei verbieten. Ich bin sehr gespannt, wie die Europäische Union reagieren wird – bisher haben die Beitrittsverhandlungen offensichtlich nur zu einer Fortschreibung der systemimmanenten Defizite in der Türkei geführt.

Welche Auswirkung hat das Verbotsverfahren?

Einen schweren Rückschlag wird die türkische Wirtschaft erfahren. Seit die AKP regiert, verzeichnet die Türkei ein überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum. Zudem wurde der Staatshaushalt einigermaßen konsolidiert und die Inflation fiel auf unter zehn Prozent - das hat es über 30 Jahre nicht mehr gegeben. Ich wüsste im Moment nicht, welche andere Partei diese Erfolge wiederholen kann. Auch die Beitrittsverhandlungen mit der EU werden einen Rückschlag erfahren. Offen ist auch die Frage, wem sich die Anhänger der AKP zuwenden werden, wenn ihre Partei verboten wird.

In meinen Augen geht das Verbotsverfahren an einem Kernproblem der Türkei vorbei. Man kann natürlich eine Partei verbieten, aber die AKP ist – medizinisch ausgedrückt – nur ein "Symptom" und nicht die eigentliche "Krankheit". Aus kemalistischer Sicht wäre die "Krankheit" das gestiegene Bedürfnis in der türkischen Bevölkerung nach mehr Demokratie und dem EU-Beitritt und nach einer stärkeren politischen Artikulation von religiösen Rechten. Ich bin sehr gespannt, wie die kemalistische Staatselite und die anderen Parteien diese Interessen glaubhaft einfangen wollen.

Das Interview führte Nicole Meßmer

Cemal Karakas ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt. Er ist zuständig für Türkei-Fragen.

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