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Politik: Aktionismus in Ankara

Die Regierung will in die Offensive – aber eine freie Debatte lässt sie nicht zu

Wir haben nichts zu verbergen – das ist die neue Formel der Türkei im Streit über den Vorwurf eines Völkermordes an den Armeniern. Ankara gibt sich in diesen Tagen kompromissbereit, offen und angriffslustig zugleich. Die Türkei ist bereit, die blutigen Ereignisse im Ersten Weltkrieg gemeinsam mit dem verfeindeten Nachbarn Armenien zu untersuchen. Der türkische Generalstab veröffentlicht plötzlich Dokumente aus seinem bisher so gut wie unzugänglichem Archiv – natürlich nur Unterlagen, die den türkischen Standpunkt untermauern. Dieser Aktionismus kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch 90 Jahre nach der Ermordung der Armenier in der Türkei etwas Entscheidendes fehlt: eine freimütige Diskussion über die damaligen Ereignisse.

Die Türkei sei bisher zu passiv im Umgang mit dem Vorwurf des Völkermordes gewesen, kritisiert Außenminister Abdullah Gül. Der Dreh- und Angelpunkt der türkischen Haltung bleibt unangetastet: Demnach kamen bei Massakern, Zwangsumsiedlungen und dem Ausbruch von Krankheiten vor allem im Osten der Türkei vom Jahr 1915 an zwar mehrere hunderttausend Armenier ums Leben – das damalige Osmanische Reich habe aber nicht beabsichtigt, die Volksgruppe der Armenier auszulöschen. Gül meint, es gebe keinen Grund, sich für die türkische Geschichte zu schämen.

Als Nachfolgerin des Osmanischen Reiches sieht die türkische Republik im Völkermord-Vorwurf einen Angriff auf die türkische Nation an sich. Zudem befürchtet Ankara Gebiets- und Reparationsforderungen der Armenier. In den Archiven gebe es kein Dokument, das als Beleg für einen beabsichtigten Völkermord der damaligen Regierung an den Armeniern tauge, dafür viele Belege über armenische Gräueltaten an muslimischen Türken, erklären türkische Historiker. Nur selten sind Stimmen zu hören, die die offizielle Position in Frage stellen. Einem Professor, der das türkische Vorgehen gegen die Armenier kürzlich als „ethnische Säuberungen“ bezeichnete, wurde von Kollegen vorgehalten, er verstehe nichts von osmanischer Geschichte. Der Schriftsteller Orhan Pamuk, der von der Ermordung von einer Million Armenier sprach, erhielt Morddrohungen, eine Staatsanwaltschaft leitete Ermittlungen gegen ihn ein. Vier von fünf Türken sind einer Umfrage zufolge dafür, dass die Türkei auf eine EU-Mitgliedschaft verzichtet, wenn sie dafür die Einstufung der Massaker an den Armeniern als Völkermord hinnehmen müsste.

Unter der Tabuisierung leiden besonders die rund 60000 türkischen Armenier. Vor allem armenische Männer im Alter zwischen 35 und 60 Jahren seien sehr vorsichtig mit ihren Äußerungen, ergab eine Studie der Istanbuler Sozialwissenschaftlerin Aysegül Komsuoglu. Die Armenier sind in der Türkei zwar offiziell als Minderheit anerkannt, doch Karrieren in der Armee und im Staatsapparat sind ihnen versperrt. Viele klagen der Studie zufolge über Repressalien beim Wehrdienst oder beim Kontakt mit Behörden. Anders als etwa die jüdische Gemeinde in der Türkei erhalten die türkischen Armenier zudem keinerlei Unterstützung durch die Diaspora im Ausland – weil sie auch dort als Verräter gelten.

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