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Der Politologe Alfred Grosser.

© dpa

Alfred Grosser wird 90: Der Elfenbeinturm ist nicht sein Lieblingsort

An diesem Sonntag wird der Politologe Alfred Grosser 90 Jahre alt. Er ist ein Querdenker, der immer wieder zu überraschen vermag.

In seinem Buch „Mein Deutschland“ beschreibt Alfred Grosser, wie er als Junge zum Franzosen wurde. An seinem ersten Schultag schlug der Achtjährige 1934 in einer Grundschule bei Paris auf seine neuen Mitschüler ein, weil er hinter der Frage „Comment tu t’appelles?“ („Wie heißt du?“) eine Beschimpfung witterte.
Er sprach damals kaum Französisch, nachdem seine Familie im Jahr zuvor vor den Nazis aus Frankfurt am Main geflohen war. Doch das sollte sich rapide ändern: In der sechsten Klasse teilte sich der Schüler Grosser mit einem russischen Immigrantensohn den Französisch-Preis. Natürlich wäre es nicht so schnell gegangen, schreibt Grosser in seinem Buch, wenn nicht zwei, sondern 20 der 35 Sextaner Einwandererkinder gewesen wären. „Heute sind die Lehrer der Pariser Vororte, die bis zu 70 Prozent Schüler islamischen Ursprungs in der Klasse haben, in einer viel schwierigeren Lage“, analysiert er.
Es gehört zu den vielen Qualitäten Grossers, dass er nie im Elfenbeinturm verharrt, sondern häufig einen Bezug zur Tagesaktualität herzustellen vermag. Und so kann man auch jene Buchpassage vor dem Hintergrund einer Debatte lesen, die um die strikte Zurückhaltung von Frankreichs staatlichen Schulen in Religionsfragen im Nachbarland gerade neu aufflammt. Grossers Biografie ist ein Beispiel für einer gelungenen Integration, für die das französische Schulsystem den Grundstein legte. Vor wenigen Tagen schrieb Grosser in einem Beitrag für die Zeitung „Ouest France“, die Aufgabe der Schulen müsse heutzutage darin bestehen, die ganze Diversität des Menschseins zu erklären.
Der Politologe Grosser, der zu den großen Europäern zählt und wie kaum ein anderer bis heute an der deutsch-französischen Verständigung arbeitet, ist mit zahlreichen Auszeichnungen wie dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für sein jahrzehntelanges Wirken gewürdigt worden. Dabei ist er immer wieder für die eine oder andere Überraschung gut gewesen. Vor allem mit seiner Israel-Kritik eckte der Sohn eines jüdischen Sozialdemokraten an.
Vor allem aber spürt man, dass die Tagesaktualität ihn bis heute in ihren Bann schlägt. Wenn man ihn unmittelbar nach dem Anschlag auf die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ anrief, traf man auf einen Gesprächspartner, der sich – bei aller Betroffenheit – zu einer kühlen Einschätzung im Stande sah. An diesem Sonntag wird Alfred Grosser 90 Jahre alt.

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