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Politik: Alle Matrosen an Bord

Von Robert Birnbaum

Die Versuchung der Angela Merkel müsste groß sein, sehr groß sogar. Die rotgrüne Koalition hat ein paar schwierige Wochen hinter sich und eine ganz und gar verheerende. In acht Wochen entscheidet der Wähler in Nordrhein-Westfalen über die letzte rot-grüne Landesregierung. Der Druck im Kessel der Regierenden ist hoch, durch Ritzen pfeift der Dampf. Groß müsste die Versuchung für die Opposition sein, mächtig aufzutrumpfen: mindestens Neuwahlen sofort! Doch hört man solche Töne – außer von der FDP, auf die mal wieder keiner hört? Nein. Das hat einen einfachen Grund: Zum ersten Mal seit langer Zeit hat die Union das Gefühl, dass der Machtwechsel möglich wird.

Dieses Gefühl ist viel stärker als vor einem Jahr. Damals standen zwar CDU und CSU demoskopisch vor der absoluten Mehrheit, und Gerhard Schröder musste den Parteivorsitz opfern, um sich das Kanzleramt zu retten. Aber dieses Hoch hatte etwas Irreales. So toll war die Union nicht, was sich im folgenden Jahr im Gesundheitsstreit zeigen sollte. So verloren war auch Schröder nicht – ihm blieb viel Zeit, das Blatt zu wenden.

Die Lage heute ist anders. Fast ungläubig registriert die Union die Erosionen auf der anderen Seite. Leise staunend verfolgt sie, wie Joschka Fischer im Bundestag eine Rede hält, bei der nicht gebanntes Schweigen im Plenarsaal herrscht, sondern desinteressiertes Geplauder rechts wie links. Leise amüsiert hört sie dem Kanzler zu, wie der im Fernsehtalk Merkel davor warnt, Edmund Stoibers Ehrgeiz zu unterschätzen. Als ob die Kanzlerkandidatenfrage im Ernst noch offen wäre! Diese kleinen Erlebnisse addieren sich zum Eindruck einer Regierungskoalition, die auf ganzer Linie in die Defensive geraten ist. Auch – und das ist nun wirklich neu – auf grüner Linie. Es gab vielleicht nie eine echte kulturelle Mehrheit für Rot-Grün. Aber die Grundsympathie für die „Atomkraft – Nein danke“-Truppe war immer weit verbreitet. Die Visa-Affäre, vor allem der Umgang mit ihr, nagt an diesem Vorschuss auf Moral und Vertrauen. Dies alles ist nicht das Verdienst der Union und nicht der Beweis dafür, dass CDU und CSU es besser könnten. Aber wenn der Satz richtig ist, dass nicht Oppositionen gewählt, sondern Regierungen abgewählt werden, ist die Union ihrem Ziel deutlich näher gekommen.

Ihr eigener Beitrag bestand in erster Linie darin, Disziplin gehalten zu haben. Die Querschüsse zwischen CDU und CSU sind ebenso verstummt wie das Heckenschützen-Dauerfeuer auf Merkel. Darin spiegelt sich mehr als die Resignation ihrer Konkurrenten. Ganz allmählich verliert die CDU auch die Angst vor dem politischen Gegner, diese Angst vor dem eigenen Ungenügen. Stoibers Spruch von den „Leichtmatrosen“ hat Sprengkraft verloren, seit in Kiel einer in der Wahl gesiegt hat, den sie auf dem Dampfer Berlin nicht mal als Hilfsheizer angeheuert hätten.

So muss die Union derzeit gar nicht viel mehr tun, als dem Genossen Trend beim Wandern zuzuschauen. Und der Versuchung widerstehen, ihm dabei allzu kräftig nachzuhelfen. Es ist nämlich nicht so, dass die Leute der Opposition neuerdings mehr zutrauen als bisher. Sie trauen nur der Regierung weniger zu. Es ist auch nicht so, dass die Leute neuerdings die Groschenphilosophien vom Lob der Freiheit besonders anziehend finden. Sie hätten nur gerne weniger Angst vor Arbeitslosigkeit und Abstieg. Und es ist nicht so, dass die Leute einen Machtwechsel herbeisehnen. Sie scheinen nur langsam bereit zu sein, ihn hinzunehmen.

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