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Politik: Alles, was gerecht ist

Von Tissy Bruns

Was fehlt der SPD? Ein Vorsitzender, der länger amtiert als ein Jahr. Der nüchterne Realitätssinn, den eine Regierungspartei braucht. Personal und politischer Unterbau in den Bundesländern. Mitglieder aus allen sozialen Schichten. Das alles fehlt der SPD. Aber am allermeisten braucht sie: eine Idee! Eine Idee von sich selbst und für die Gesellschaft, in der wir heute und in zwanzig Jahren leben wollen.

Die SPD hat Kaiserreich, Weimar und die Diktaturen des 20. Jahrhunderts durchlebt, ohne sich je umbenennen zu müssen. Sie ist die katholische Kirche des deutschen Parteiensystems. Sich mit den Zeiten zu wandeln und dabei im Kern zu bleiben, was man war – das ist auf Leitbilder und Hoffnungen angewiesen, an die man glauben, für die man kämpfen kann. Bei der SPD sind das die Grundwerte Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit und unter ihnen ragt, irgendwie, immer die Gerechtigkeit heraus.

Die Gerechtigkeitspartei SPD hat schwer gelitten. Gemeinhin gilt als Erklärung dafür die Politik, die sich mit der Agenda 2010 und Hartz verbindet. Tatsächlich waren die Schröder-Reformen der überfällige, von den Akteuren selbst kaum verstandene Versuch, zu einer alten sozialdemokratischen Haltung zurückzufinden: nämlich gegen schreiend ungerechte Verhältnisse anzutreten. Denn längst waren der Gegenwarts-SPD die erkämpften Besitzstände wichtiger geworden als die Beseitigung der Missstände, die der neue globalisierte Kapitalismus produziert. Wann immer der Sozialstaat einen Euro sparen musste, standen im Umfeld der SPD ganz Kampfbataillone mit der empörten Feststellung bereit: Das ist doch unsozial!

Die SPD kann aus dem Tiefschlaf über globale Ungerechtigkeiten, fünf Millionen Arbeitslose oder renditeversessene Unternehmer sprechen. Aber wo fließt sozialdemokratisches Herzblut über die konkreten Leiden: über die 600 000 arbeitslosen jungen Leute, die vergeblichen Ausbildungsbewerbungen selbst von Realschülern, über das Fehlen der über 50-Jährigen in den Betrieben, die früher Hans nebenher beigebracht haben, was Hänschen in der Hauptschule nicht gelernt hat? Wer tritt ein für die Kinder aus den vernachlässigten Stadtteilen, wer macht zu seinem politischen Lebensthema, dass jedes zehnte Kind in Deutschland aufgegeben wird, bevor es in die Schule kommt? Hat schon jemand Netzwerker für die Interessen der Uni-Absolventen gesichtet, die einen schlecht bezahlten Praktikantenvertrag nach dem anderen annehmen müssen?

Das alles hat die SPD verlernt. Und sie wird zum Auslaufmodell werden, wenn sie nicht den Mut findet, ihre alte Vision auf die neuen Verhältnisse zu münzen. Und diese Vision war nicht, dass der Staat überall ausgleicht, wo die kapitalistische Wirtschaft versagt, war nicht die theoretische Definition einer gerechten Gesellschaft. Der Antrieb der politischen Arbeiterbewegung war leidenschaftliche Wut gegen die fundamentale Ungerechtigkeit, die den Proletariern die Ideale der Moderne und der Französischen Revolution vorenthalten wollte. Ihr Traum war der von einer Gesellschaft, die ihre Angelegenheiten so ordnet, dass jeder einzelne Mensch ein selbstbestimmtes, verantwortliches Leben führen kann. Die SPD hat daran geglaubt, dass jeder Mensch auf eigenen Füßen stehen und den Nachkommenden bessere als die vorgefundenen Verhältnisse weitergeben kann. Heute wird als mutig und auf der Höhe der Zeit ein sozialdemokratischer Spitzenpolitiker empfunden, der den Menschen etwas zumuten will.

Die Ideen vom vorsorgenden Sozialstaat, von Bildung als Gerechtigkeitsfrage im neuen Parteiprogramm sind richtig. Aber sie werden so mattherzig und blutleer bleiben, wie sie gestern in der Rede des künftigen Parteivorsitzenden geklungen haben, wenn die SPD ihren verlorenen Glauben nicht wiederfindet. Gleichheit ist heute ein verpönter Begriff. Trotzdem bleibt der schönste, uneingelöste Auftrag der Moderne: Verhältnisse zu schaffen, in denen jeder Mensch die Freiheit wahrnimmt, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen.

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