zum Hauptinhalt

Politik: Als Staatsanwälte Geschichte schrieben

Eine Gedenktafel wird man vergebens suchen. An der breiten Fassade des im faschistischen Baustil errichteten Mailänder Justizpalastes erinnert nichts an jenen 17.

Eine Gedenktafel wird man vergebens suchen. An der breiten Fassade des im faschistischen Baustil errichteten Mailänder Justizpalastes erinnert nichts an jenen 17. Februar 1992, der in die italienische Nachkriegsgeschichte als Geburtstag von "Tangentopoli" einging. Das Wort kommt von "tangente", Schmiergeld. "Tangentopoli" ist also die Stadt der Schmiergelder - ein neu-italienisches Wort, das in den Monaten nach dem 17. Februar weltweit bekannt wurde und für jenes raffiniert ausgeklügelte Schmiergeldsystem steht, von dem jahrelang Politiker wie Unternehmer profitiert hatten.

Bis zu jenem Tag im Februar vor zehn Jahren. Eine Gruppe von Ermittlungsrichtern bereitete einen ganz großen Schlag vor, die Verhaftung eines prominenten sozialistischen Lokalpolitikers. Mario Chiesa war Direktor eines Altenheims in Mailand. Die Untersuchungsrichter, unter ihnen Antonio Di Pietro, ehemaliger Gastarbeiter bei WMF in Deutschland, ermittelten schon seit Monaten gegen Chiesa und hatten die Übergabe eines Schmiergelds eingefädelt. Eine Falle, in die der Sozialist hineintappte. Der Deal um die Höhe des Schmiergelds wurde per Kamera mitgeschnitten und später als Beweismaterial im Prozess benutzt. Als Chiesa verhaftet wurde, ahnte niemand, weder in Mailand noch im übrigen Italien, dass der in Handschellen Abgeführte der erste von vielen Politikern sein würde, die das gleiche Los erwartete und ebenfalls, umringt von zahllosen Fotografen, die hohe Treppe des Justizpalastes hinaufsteigen mussten. Chiesa war nur der erste. Nach ihm folgten immer prominentere Politiker und Unternehmer. Aufgedeckt wurde dank der minutiös durchgeführten Recherchen einer Gruppe mutiger Untersuchungsrichter ein sämtliche politische Parteien und Hunderte von Unternehmen umfassendes "Tangentopoli".

Plötzliche Berühmtheit

Ermittler wie Di Pietro wurden mit jedem Prozesstag berühmter. Prozesstage, die im Fernsehen stundenlang ausgestrahlt wurden. Di Pietros Wutananfälle, wenn Politiker auch angesichts offensichtlicher Beweise ihre Schuld einfach nicht zugeben wollten, sind heute Legende. Jener Gerichtssaal, an dessen Wand über den Richterbänken "Das Recht ist gleich für alle" in großen Lettern geschrieben steht, wurde italienischen Fernsehzuschauern so bekannt wie die Bühnendekorationen beliebter Seifenopern.

Vor dem Kadi im Mailänder Justizpalast erschien das Spitzenpersonal der italienischen Politik. Zu den Angeklagten gehörte Bettino Craxi, der bis zu seiner Flucht vor den Ermittlungsrichtern nach Tunesien nicht nur Sozialistenchef, sondern auch einer der mächtigsten römischen Politiker war. Mario Chiesa war ein politischer Zögling Craxis - auch in Sachen Korruption. Wie sein großes Vorbild kassierte auch Chiesa Schmiergelder für bestimmte Aufträge, die er bestimmten Unternehmern gab. Fast jeden Tag wurden aus dem Mailänder Justizpalast Neuigkeiten bekannt, die in Rom mittlere bis schwere politische Erdbeben auslösten. "Dort wird eine Justizrevolution vorbereitet wie die französische Revolution", wetterte Craxi vor seiner Flucht. Die Ermittlungsrichter deckten auch zuhauf illegale Parteienfinanzierung, Korruption und Nähe von Politikern zur Mafia auf. "Die Ermittlungen stellen Italien auf den Kopf", schrieb 1994 "La Repubblica". Der Mailänder Justizpalast, so Literaturnobelpreisträger Dario Fo, "wurde zum gefürchteten Orakel, dessen Weissagungen in Rom und sonstwo mit großem Zittern erwartet wurden".

Ein berechtigtes Zittern. Dank der Ermittlungen der Mailänder Untersuchungsrichter, die als "mani pulite", als saubere Hände, berühmt wurden, stürzten Politiker von rechts bis links. Vom Lokal- bis zum Spitzenpolitiker, vom Kleinunternehmer bis zum Tycoon wie Roaul Gardini, der sich vor seiner Verhaftung das Leben nahm. "Noch nie zuvor", erklärt der prominente römische Verfassungsrechtler Paolo Ridola, "hatten Richter in Italien so viel Macht und noch nie zuvor brach sich, im wahrsten Sinne des Wortes, die Wahrheit ihren Weg durch einen Dickicht der Korruption". Mit Spannung verfolgten die Italiener die Ermittlungsergebnisse und schauten sich im Fernsehen einstmals allmächtige Politiker an, die jetzt, nägelkauend oder mit versteinernten Gesichtern, im Mailänder Justizpalast auf der Anklagebank saßen.

Dieser Justizpalast und seine Bewohner wurden mit der Zeit zum roten Tuch römischer Politiker. Vor allem seit dem Jahr 1994, als der Medienzar Silvio Berlusconi Ministerpräsident wurde. Er bezeichnete die Untersuchungsrichter als Kommunisten und warf ihnen vor, "einen Justizputsch" vorzubereiten. Berlusconi stürzte nach nur sieben Monaten, kehrte aber im Mai letzten Jahres an das politische Ruder zurück. "Seitdem hat er es auf meine ehemaligen Kollegen abgesehen", meint Antonio Di Pietro, der inzwischen selbst in die Politik gegangen ist, "um auch von dieser Front aus dem Recht zum Sieg zu verhelfen". Jetzt schimpft Berlusconi, gegen den in mehreren Fällen wegen Korruption und Richterbestechung ermittelt wird, auf die "roten Richter in Mailand". Um diesen "linken Justizsumpf", so Lega-Nord-Chef Umberto Bossi, "auszutrocknen", werden immer neue Gesetze erlassen, die den Untersuchungsrichtern die Arbeit erschweren sollen.

Gesetze und Gesetzesdekrete, die zu einem tiefen Misstrauen zwischen Richtern und Politikern geführt haben. Ein Misstrauen, dass die Bewohner des Mailänder Justizpalastes dazu veranlasst hat, die Justizkommission der UNO in New York um Hilfe anzurufen. Deshalb soll ein UN-Mitarbeiter nicht nur in Rom bei der Regierung vorstellig werden, sondern auch die Treppe zum Mailänder Justizpalast hinaufschreiten, um sich dort mit jenen Männern und Frauen zu treffen, die das Unerhörte wagen - der Korruption in Italien das Handwerk zu legen.

Thomas Migge

Zur Startseite