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Weil die Rente nicht reicht, sammelt so mancher Rentner Flaschen.

© dpa

Altersarmut in Deutschland: Immer mehr arme Alte

Die Zahl der Armen in Deutschland, die Grundsicherung in Anspruch nehmen müssen, steigt. Vor allem Rentnerinnen in Westdeutschland sind betroffen. Wie ist das zu erklären?

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Das Beunruhigende ist nicht die absolute Zahl, sondern der stetige Zuwachs. Ende 2012 konnten 465 000 Menschen in Deutschland nicht von ihrer Altersrente leben und mussten zusätzlich Leistungen aus der Grundsicherung beantragen. Das ist eine Steigerung um 6,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Im Vergleich zu 2005 liegt der Anstieg bei 35,6 Prozent. Aktuell sind demnach 2,7 Prozent der über 65-Jährigen aufs Sozialamt angewiesen, vor acht Jahren waren es noch 2,2 Prozent. Und wenn man die dauerhaft Erwerbsgeminderten hinzunimmt, denen die Erwerbsunfähigkeitsrente ebenfalls nicht zum Leben reicht, erhalten derzeit knapp 900 000 Menschen in Deutschland Grundsicherung – so viele wie niemals zuvor.

Auffällig ist an dieser Entwicklung zweierlei. Zum einen sind von der Zunahme der Altersarmut im Ost-West-Vergleich vor allem Rentner der alten Bundesländer betroffen. Während in Ostdeutschland lediglich zwei Prozent der über 65-Jährigen auf Grundsicherung angewiesen sind, liegt die Quote im früheren Bundesgebiet bei drei Prozent. Und am stärksten trifft es westdeutsche Frauen im Rentenalter. Ihr Anteil beträgt 3,3 Prozent – von den Männern im Westen müssen nur 2,5 Prozent zum Sozialamt. In Ostdeutschland sind die Frauen mit 2,1 Prozent zwar auch überrepräsentiert, die Spanne ist gegenüber 1,8 Prozent bei den Männern aber nicht so weit auseinander. Der Grund dürfte darin zu finden sein, dass im Osten zu DDR-Zeiten schlicht mehr Frauen berufstätig waren und dadurch auch höhere Rentenansprüche erwerben konnten.

Erwerbsunfähigkeitsrenten reichen nicht

Für die gestiegene Zahl der Hilfsbedürftigen gibt es viele Gründe. Die Rentenkürzungen zeigen Wirkung, die Erwerbsbiografien sind brüchiger geworden, immer mehr Menschen arbeiten in Billigjobs. Die Auswirkungen all dessen werden sich, wenn nicht gegengesteuert wird, in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch massiver zeigen. Momentan trifft das Problem der Altersarmut, das zeigen die Zahlen, vor allem Frauen, die Kinder erzogen, dadurch länger im Job pausiert und wenig in die Rentenkasse eingezahlt haben. Obwohl es früher im Westen kaum Betreuungsmöglichkeiten für Kleinkinder gab, wird für die Erziehung jedes vor 1992 geborenen Kindes aber bisher nur ein Renten-Entgeltpunkt angerechnet. Das sind derzeit grade mal 28 Euro monatlich im Westen und 25 im Osten. Jüngere Mütter bekommen dreimal so viel. Aus Gerechtigkeitsgründen dringt die Union nun auf eine Angleichung, sie will den Älteren wenigstens einen weiteren Entgeltpunkt zuschreiben – was die Renten von immerhin rund acht Millionen Betroffenen erhöhen und etwa 6,5 Milliarden Euro kosten würde. Allerdings warnen Experten, sich dafür, wie geplant, einfach aus der Rentenkasse zu bedienen. Die Grundsicherung wird schließlich auch aus gutem Grund aus Steuern finanziert.

Dass die Erwerbsunfähigkeitsrenten den Betroffenen hinten und vorne nicht reichen, haben die Rentenversicherer wiederholt beklagt. Eine bereits eingetütete Reform scheiterte in der vergangenen Legislatur aber am Bestreben von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU), das Ganze im Paket mit ihrer umstrittenen Zuschussrente realisiert zu bekommen. Ende 2012 lag die Durchschnittsrente-West für Männer im Schnitt bei 1005 und für Frauen bei 508 Euro im Monat. Im Osten waren es 1073 beziehungsweise 730 Euro. Bei der Grundsicherung geht es jedoch ums Gesamteinkommen – bei vielen Älteren, insbesondere im Westen, ist die gesetzliche Rente nur ein Teil davon. Anspruchsberechtigt auf zusätzliche Hilfe sind Menschen, die im Schnitt weniger als 700 Euro haben. Die genaue Summe ist abhängig vom jeweiligen Bedarf, also auch vom Wohnort und den dortigen Lebenshaltungskosten.

Hohe Dunkelziffer

Das erklärt womöglich den Umstand, dass der Anteil der Hilfsempfänger unter den über 65-Jährigen im reichen Hamburg am höchsten ist. Die Quote liegt dort bei 6,2 Prozent. Es folgen Bremen (5,5 Prozent) und Berlin (5,3 Prozent). Am seltensten bezogen Rentner in Sachsen und Thüringen Grundsicherung, hier lag der Anteil bei nur jeweils einem Prozent.

Auch in Berlin sind die Kosten für die Grundsicherung enorm gestiegen. 2005 musste die öffentliche Hand dafür noch 58 Euro je Einwohner ausgeben. Im vergangenen Jahr waren es 116 Euro. Weil der Bund die Finanzierung ab 2014 komplett übernimmt, um die Kommunen zu entlasten, muss Berlin die Kosten von etwa 400 Millionen Euro jährlich künftig nicht mehr selber tragen. Ausgezahlt wurde die Grundsicherung 2012 an fast 67 000 Berliner, davon rund 35 000 im Rentenalter und 32 000 mit voller Erwerbsminderung, vorwiegend im Alter von 35 bis 50 Jahren. Die hohe Zahl von Leistungsempfängern spiegelt die schwierige Alters- und Sozialstruktur der Hauptstadt wider. Dort leben überdurchschnittlich viele Menschen mit kurzer oder unregelmäßigen Erwerbsbiografie. Seit dem Mauerfall vor 24 Jahren gehören dazu auch zunehmend mehr Berliner im Ostteil der Stadt. Besonders betroffen sind Bezirke mit überalterter beziehungsweise sozial schwacher Bevölkerung.

Und die statistische Zunahme ist es nicht allein. Bei alledem gilt es auch noch eine Dunkelziffer zu berücksichtigen, die aus Expertensicht beträchtlich sein dürfte. Die Sozialwissenschaftlerin Irene Becker hat im vergangenen Jahr einmal den Anteil derer hochgerechnet, die im Alter aus Unkenntnis oder Scham auf die ihnen zustehende Grundsicherung verzichten. Ihr erschreckender Befund: Es handelt sich um gut zwei Drittel der Anspruchsberechtigten. Die „Quote der Nichtinanspruchnahme“ betrage, fußend auf den Daten des Sozio-Ökonomischen Panels für das Jahr 2007, etwa 68 Prozent. Von gut einer Million Menschen über 65, denen Grundsicherung zustand, hätten nur 340 000 das Geld tatsächlich bezogen.

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