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Balkonien. Verreist waren Hannelore Janke und ihr Mann schon lange nicht mehr. Dafür haben sie es sich zu Hause schön gemacht.

© Kitty Kleist-Heinrich

Altersarmut: Sparen für die kleinen Katastrophen

Am Ende des Monats muss ein 50er im Geldbeutel bleiben, sonst hat Frau Janke keine Ruhe. Ihre Rente ist klein, so klein, wie viele Renten bald sein könnten. Von Armut spricht sie nicht. Sie sagt nur: „Es darf eben nichts kaputtgehen“.

Von Julia Prosinger

Sie kann ja gut mit Geld umgehen, das hat sie von der Oma gelernt, aus wenig viel machen. Auf Schnickschnack verzichten. Nur kaputtgehen darf nichts.

Und jetzt das. Hannelore Janke atmet ein, streckt das Kinn nach oben, Wut rollt in ihre Augen, und sie sagt: „Die Scheißmatratze.“

25 Jahre, so alt wie ihre Ehe, ist diese Matratze. 1,90 mal 90 Zentimeter, Herrn Jankes Matratze. Vollkommen durchgelegen. Die Kuhle in der Mitte versuchen die Jankes mit zwei Wolldecken zu ebnen, damit die Sprungfeder nicht ganz so hart in Herrn Jankes Kreuz sticht. Einen Monat, sagt Frau Janke, hält das noch. Dann müssen sie sich etwas einfallen lassen. Von ihrer Rente können sich die Jankes im Moment keine neue Matratze leisten.

Altersarmut – davon hat Arbeitsministerin Ursula von der Leyen in den vergangenen Wochen oft gesprochen. Das Rentenniveau soll bis 2030 noch um acht Prozent sinken. Wer heute 2500 Euro brutto und weniger verdient und nicht privat vorgesorgt hat, muss im Alter von 688 Euro Grundsicherung im Monat leben. Eine Generation, die – anders als Frau Janke – das Sparen nicht gelernt hat, wird rechnen müssen.

Schon jetzt suchen „rüstige, zuverlässige Rentner“ in Anzeigen nach „neuen Aufgaben“, „auch nachts oder am Wochenende“. Mehr als 20 000 der Rentner in Berlin bessern so ihre Rente auf. In Zukunft wird das noch schlimmer werden. Denn fast 40 Prozent der Berliner verdienen heute so wenig, dass sie im Alter nicht mehr als die Grundsicherung bekommen werden.

Wenn es keine Reform gibt. Leyen will denjenigen, die mehr als 30 oder 35 Jahre gearbeitet, Angehörige gepflegt oder Kinder großgezogen haben, eine Zusatzrente garantieren, 850 Euro soll jeder insgesamt haben. Doch ihr Konzept ist umstritten – auch weil es nur für die gelten soll, die privat vorsorgen. Anreiz, nennt Leyen das. Eine zu hohe Hürde, sagen die Kritiker, denn gerade Niedrigverdiener könnten nichts für die Rente beiseitelegen.

Hannelore Janke, 61, graue Haaransätze, rote Fingernägel, humpelt in ihren orthopädischen Hausschuhen durch die Wohnung. Diabetes, immer schon. Klein ist Frau Janke und ein bisschen breiter, als sie sein sollte, das synthetische Insulin macht dick. Die Bandscheiben sind kaputt, in den Armen hat sich Kalk abgelagert, aber weil die Nieren auch schwach sind und die Bronchien sowieso, kann Frau Janke nicht operiert werden. Und musste nach 33 Jahren Altenpflege in Frührente gehen. Das erzählt sie und schenkt an ihrem Esstisch, zwischen Antiquitäten ihrer Schwiegermutter, Kristallschalen und Bierkrügen – Sammelstücke – Kaffee ein. Poluntschenbrühe, sagt sie dazu, gestreckt, wieder aufgewärmt. Dann beißt sie vom Wurstbrot ab und schaut aus dem Fenster auf die Neuköllner Pflastersteine.

Eine neue Matratze, rechnet Frau Janke vor, kostet 180 Euro, vielleicht 200. Es darf nicht die billigste sein, Herr Janke wiegt nicht wenig. „Woher soll ich die nehmen?“, fragt Hannelore Janke.

491 Euro Rente bekommt sie, 128 Grundsicherung, 60 „Zuckergeld“ von der Caritas, weil die Ernährung von Diabetikern teurer ist. 700 Euro Rente kommen von Herrn Janke. 590 davon fließen in die Miete, 60 kostet der Strom, 27 die Versicherungen. 225 Euro erhält Frau Janke noch, Pflegestufe 1. Davon bezahlt sie eine Pflegekraft, die Fenster putzt und Wasserflaschen schleppt, Betten bezieht und Böden wischt.

"Wenn es ein Sonderanjebot jibt, bin ick da."

702 Euro bleiben den Jankes für Wurst vom Discounter, manchmal Obst und Kartoffeln vom Markt. Für selten Gulasch und selten Rouladen. Morgens studiert Frau Janke Werbeblätter. „Wenn es ein Sonderanjebot jibt, bin ick da. Dann jibt es Rindfleisch vor de Kiemen“, sagt sie. 702 Euro für Seife und Toilettenpapier von der Drogerie. „Wir waschen uns ja jeden Tag.“ 702 Euro für Handys von Aldi, einen Festnetzanschluss leisten sie sich nicht mehr. „Dauergespräche kann ich nicht führen“, sagt Frau Janke. 702 Euro, und am Ende des Monats muss ein 50er im Geldbeutel bleiben. Falls was kaputtgeht. Sonst liegt Frau Janke nachts wach.

702 Euro, gar nicht so wenig. Doch was heißt arm? Für die Weltgesundheitsorganisation gilt als arm, wer monatlich von weniger als der Hälfte des durchschnittlichen Einkommens seines Landes leben muss. In Deutschland gilt laut Statistischem Bundesamt als armutsgefährdet, wer für sich allein etwa 850 Euro monatlich hat. Frau Janke sagt nicht, dass sie arm oder armutsgefährdet ist, sie sagt: „Es darf eben nichts kaputtgehen.“ Immer, wenn sie dachte, sie hätte das Geld für die Matratze beisammen, kam etwas dazwischen. Erst kürzlich ist ihr die Brille auf die Badezimmerkacheln gefallen. Fielmanns billigste Gläser, das Gestell für null Euro, trotzdem, 60 Euro, eine echte Katastrophe. Und ein zweites Paar orthopädische Schuhe kostet 76 Euro Zuzahlung.

Einmal war Frau Janke bei der Berliner Tafel. Um zu sehen, was sie erwarten könnte. Sie sah Menschen allein an Tischen sitzen, kauen, ins Leere starren. „Eher esse ich bis zum Ende des Monats Margarinestullen, als dass ich jemand werde, der dorthin geht“, sagt sie.

VIDEO: Kluft zwischen Arm und Reich immer größer

Die Frau, die Hannelore Janke nicht werden will, steht jetzt, am Ende des Monats, wenn das Geld noch knapper wird, in einer der Schlangen der Berliner Tafel und spart sich das Mittagessen. Oder sie sitzt in der Bahnhofsmission, ein paar Mal in der Woche, Weihnachten und Silvester auch, weil arm sein nicht nur ohne Geld, sondern auch ohne Freunde sein heißt. Ohne Platz in der Stadt. Weil nicht jeder eine Nachbarin hat wie Frau Janke, die anruft, um nach den Zuckerwerten zu fragen. Weil nicht jeder noch einen Mann hat wie Frau Janke, den man mal ankeift und zum Teufel schickt, aber fünf Stunden später doch vermisst.

Die Frau, die Frau Janke nicht werden will, kennt Dieter Puhl gut. Er ist der Leiter der Bahnhofsmission. In letzter Zeit, erzählt er, kämen immer häufiger typische Wilmersdorfer Witwen. Die reinhuschen, weil sie fürchten von den eigenen Nachbarn entdeckt zu werden. Wie sie heißt, die Wilmersdorfer Witwe? Wie alt sie ist? Wo genau sie wohnt? Wie viel Rente sie bekommt? Vielleicht weniger als die Jankes? Ob sie noch einen Telefonanschluss hat, eine Waschmaschine, ob ihre Wohnung überhaupt noch Strom hat? Wie sie ohne Zähne essen kann? Warum sie lieber Zahnpasta an andere Arme verschenkt, als sich die Zähne machen zu lassen? Sie will es nicht sagen.

Sie will, dass alles so bleibt, wie sie es kennt, aus Wilmersdorf: Serranoschinken dünn geschnitten, Jagdwurst, in dicken Scheiben, Butter von Butter Lindner. Früher habe es das immer gegeben, als sie mit ihrem Mann in einer Sieben-Zimmer-Wohnung lebte. Jetzt kann sie sich den Schinken noch einmal im Monat leisten, wenn sie nur oft genug Milch mit Blaubeeren bei der Bahnhofsmission zu Mittag isst und sich die Tageszeitung bei Puhl abholt, statt sie selbst zu kaufen. Manche von Puhls Gästen fragen nach einem Päckchen Taschentücher, viele haben zwar ein Wohnzimmer, kommen aber lieber in die Bahnhofsmission.

20 Prozent weniger Rente als erwartet.

Hannelore und Jürgen Janke, Frührentner nach 33 und 43 Arbeitsjahren, haben ein Wohnzimmer voll mit Dekorationspuppen in samtenen Kleidern, die Frau Janke wäscht, wenn Herr Janke beim Sport ist. Sie hat 2500, er 2300 Euro monatlich verdient, zu besten Zeiten, heute haben sie 20 Prozent und 18 Prozent weniger Rente als erwartet. „Blüm hatte doch gesagt, die Renten sind sicher“, sagt Frau Janke. An private Vorsorge habe man nie gedacht. Und dann sei auch noch der Euro gekommen.

Vor ein paar Jahren mussten sie deshalb umziehen, zwei Straßen weiter, 70 statt 110 Quadratmeter. Im Urlaub waren sie nie wieder, auch im Theater nicht, im Kino nicht, nicht auswärts essen, nicht mal eine Currywurst am Stand. Auf ihren Sonntagsspaziergang am Maybachufer nehmen sie Stullen mit. Kein Lotto, keine Kirchensteuer.

Die Gans für den ersten Weihnachtsfeiertag bekommen sie von Herrn Jankes Sportverein in Moabit geschenkt, genau wie die Zeitschriften, in denen manchmal etwas über Bruce Darnell drinsteht.

Bruce Darnell. Frau Janke kichert. Bruce Darnell, der schlanke, schwarze Laufstegtrainer aus dem Fernsehen. Frau Janke wünscht sich sein Buch. „Drama, Baby, Drama! Wie Sie werden, was Sie sind“. Hannelore Janke verkneift es sich, 16 Euro für ein Buch auszugeben. Wenn sie es hätte, sagt sie und kichert wieder, würde sie jede Seite langsam lesen, pausieren, verarbeiten. Bruce Darnell, nah am Wasser gebaut. Wie ihr Mann. Groß. Wie ihr Mann.

VIDEO: Kein Konsens bei der Rente

In der Silvesternacht 1982 auf 1983 hat Hannelore Jürgen Janke in einer Neuköllner Eckkneipe, in der „Oase“, kennengelernt. Die Dauerwelle hat sie ihm ausgeredet, aber schön groß war er ja, das mochte sie, und mit den Jahren kam die Liebe, sagt sie. „Seitdem laufen wir zusammen.“ Wäre er nicht so groß wie Bruce Darnell, dann wären seine Schuhe, Größe 47, nicht so teuer, wäre er nicht so schwer, dann wäre das mit der Matratze, mit dieser „Scheißmatratze“, 190 auf 90 Zentimeter, alles nicht so schlimm. Und hätte er nicht die Fixateure, die Schrauben im Rücken, wegen der Bandscheibe, wegen der Schweine, die er bei der Fleischerei Michau in Spandau im Akkord – jedes Schwein war Geld – geschnitten hat, wegen der Satten, der Schüsseln voll Fleisch, die er getragen hat, nachts immer, wenn Hannelore bei den Alten war und er mit dem Bus von Neukölln bis nach Spandau gefahren war, täte ihm die Matratze nicht so weh. 43 Jahre lang hat er dort gearbeitet, 2006 ist er in Rente gegangen.

„Ich kann von früher zehren“, sagt Frau Janke. Sie denkt dann an den Urlaub, Mallorca, Zypern, Ostsee. Oder weiter zurück, an die ersten Jahre der Ehe, als sie schwofen gingen und nachts aufblieben, mit dicken Augen zur Frühschicht, aber wer saufen kann, kann auch arbeiten. Oder noch davor, als sie die Ausbildung machte und in Tempelhof tanzen ging. Frau Jankes Vater war mal Fahrkartenkontrolleur, mal Pförtner, sie sollte Schneiderin werden, aber die Nähmaschine war kein Mensch, und Frau Janke mag Menschen. „Ich werd auch mal alt sein“, sagte sie, wann immer ihr jemand die Altenpflegerin ausreden wollte.

Wer eine Minirente bezieht, kann mit Hartz IV aufstocken. Die meisten schämen sich aber zu sehr.

Morgens bügelte und faltete sie ihre Haube. „Wie Käthe Kollwitz auf der Flucht“ habe sie ausgesehen. Dann schrubbte sie Waschbecken, mit Ata und Lappen, vom Waschbecken ging es zur Spüle, von der Spüle zum Bettenhaus, vom Bettenhaus zur Küche, von der Küche endlich ans Bett, zu den Menschen. 33 Jahre lang.

Oder sie denkt an ganz früher, als die schicken amerikanischen Soldaten ihr, dem Mädchen, Kaugummi für Pirouetten auf den Rollschuhen gaben, oder an noch früher, als sie mit der Großmutter in Schöneberg zusammen die Kartoffelschalen der Nachbarn gegen Brennholz tauschte und von wenigen Pfennigen Kuchenanschnitt kaufte oder ein einzelnes Gummibärchen für die Schwester.

Andere haben Kinder, die jetzt eine Matratze oder ein Bruce-Darnell-Buch vorbeibringen könnten. Frau Janke wollte eine ganze Fußballmannschaft, Jungs, Herr Janke wollte blonde Mädchen. Sie bekamen zwei Fehlgeburten.

Die Wilmersdorfer Witwe hat Kinder. Wissen ihre Kinder, wie es ihr geht? In der Bahnhofsmission zieht sie die dunkle Weste zurecht. „Wir Alten wollen nicht, dass die Jungen wissen, wie es um uns steht.“ Ihre Kinder, sagt sie, hätten doch auch ein Recht auf ein eigenes Leben und kauft dem Sohn zum Geburtstag eine teure Flasche Wein. Besuch lässt sie schon lange nicht mehr rein. „Ich kann ja kein Stück Kuchen servieren.“

Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung hat ermittelt, dass mehr als die Hälfte mit Anspruch darauf aus Scham oder Unkenntnis keine Grundsicherung beziehen. Das könnten sie seit 2003, damit die, die nur eine Minirente bekommen, ihre Bezüge auf Hartz-IV-Niveau aufstocken können. Weiß die Wilmersdorfer Witwe das?

Frau Janke kann andere um Hilfe bitten, sie kann auch die Wahrheit sagen. Irgendwie wird sie auch die Matratze bezahlen können. „Es ist doch keine Schande. Ich habe gearbeitet, ich bettele nicht.“

Weil Frau Janke keine gebrauchte Matratze aus dem „Armenhaus“ will – so nennt sie das Sozialkaufhaus in Neukölln – muss sie weiter sparen oder einen Antrag bei der Caritas stellen. Aber das, erzählt sie, ist kompliziert. Es ginge so: Frau Janke humpelt zum nächsten Matratzenhaus, Hermannplatz, fragt nach einem Kostenvoranschlag. Frau Janke humpelt zu Paul, dem Bekannten mit Computer, fragt nach Adressen weiterer Matratzenhäuser. Frau Janke holt insgesamt drei Kostenvoranschläge. Frau Janke humpelt in den Prenzlauer Berg, stellt sich morgens um acht in die Schlange bei der Caritas. Hofft, dass sie drankommt, viele sind da.

Die Scheißmatratze ist nicht das einzige Problem der Jankes. Auf Frau Jankes Seite vom Bett ist der Lattenrost inzwischen eingekracht. 25 Jahre eben. Mit grünen Spanngurten hat Herr Janke die Lücke gestopft, drumherum hat er eine orangefarbene Wolldecke gewickelt. „Und beim Kühlschrank hoffe ich, dass er nur im Winter kaputtgeht“, sagt Frau Janke. Auch der Kühlschrank ist so alt wie die Ehe der Jankes, 25 Jahre.

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