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Politik: An der Grenze

Von Clemens Wergin

Ariel Scharon ist einer jener monumentalen Politiker, wie sie nur Krieg und große Krisen hervorbringen. Das ist ein Typus, den es in Europa inzwischen nicht mehr gibt, nicht mehr geben muss. Ob als einfacher Soldat, als General oder Verteidigungsminister: Scharon hat in allen israelischen Kriegen mitgekämpft, mitgeplant, mitgewirkt. Zuletzt war Scharon zu einer Art Großvaterfigur geworden, der wie kein anderer Sicherheit und Stabilität verkörperte. Mit dem Ende der Ära Scharon tritt nun vielleicht auch Israel in ein postheroisches Zeitalter ein, in dem Politiker nicht mehr Überväter der Nation sein müssen.

Scharon hat seinen Mut, seine Ruchlosigkeit und Intelligenz in vielen Kriegen bewiesen. Zum Held wurde er im Jom- Kippur-Krieg 1973, als er mit seiner Panzereinheit über den Suezkanal setzte und einer ägyptischen Armeeeinheit in den Rücken fiel. Eine tollkühne Aktion, mit der Israel ein Faustpfand für die Waffenstillstandsverhandlungen erhielt. Zum Tiefpunkt seiner Karriere wurde der Libanonkrieg 1982, in den er den damaligen Premierminister Menachem Begin getrieben hatte. Als Verteidigungsminister musste Scharon dann zurücktreten, weil er nichts unternommen hatte, um die Palästinenser in den libanesischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila vor einem Massaker der christlichen Falange-Miliz zu schützen.

Die von ihm entwickelte Armeetaktik, immer in Bewegung und stets unberechenbar zu bleiben, übertrug Scharon auf die Politik. Die Israelis wählten ihn vor fünf Jahren, um die palästinensische Terrorintifada mit harter Hand niederzuschlagen. Als ihm das gelungen war, wartete Scharon aber nicht etwa ab, bis internationaler Druck ihn zu Zugeständnissen an die Palästinenser zwingen würde. Stattdessen machte er selbst welche und legte seinen Gaza-Plan vor. Mit dem einseitigen Abzug verblüffte er nicht nur Europa, die Welt und die Palästinenser, sondern stürzte seine eigene Partei in eine tiefe Krise – und sich selbst fast mit.

Einer, der einst „Vater der Siedlungen“ genannt wurde, der noch in den friedensbeseelten 90er Jahren mitgeholfen hatte jene Verräterstimmung gegen Jitzchak Rabin zu schüren, die diesen am Ende das Leben kostete, fiel nun den Großisrael-Ideologen in den Rücken. Wie wir heute wissen: Zu spät, um die von ihm begonnene Wende zu einem guten Ende zu bringen. Darin liegt die historische Tragik dieses Augenblicks: Dass es der von Scharon und Schimon Peres verkörperten Gründergeneration nach vielen Irrwegen und Irrtümern nicht vergönnt ist, das israelische Staatsprojekt zu vollenden und den Konflikt mit den Arabern beizulegen.

Es bleibt das große Verdienst des späten Scharon, mit dem Rückzug aus Gaza zumindest einen Grundstein für den Frieden gelegt zu haben, in dem er die moderaten Konservativen aus der babylonischen Gefangenschaft mit der Siedlerbewegung befreite. Selbst wenn unklar bleibt, ob sein politisches Projekt einer Partei der Mitte ohne ihn Bestand haben wird, so hat Scharon der Großisrael-Ideologie mit dem Rückzug aus Gaza doch die entscheidende Niederlage beigebracht. Und er hat Israel eine weitere strategische Option eröffnet – die einseitige Entflechtung von den Palästinensern. Das ist nicht die beste aller Lösungen. Aber wenn das Führungsvakuum auf palästinensischer Seite anhält, wird dieser Weg eben auch für das Westjordanland denkbar: eine Aufgabe vieler verstreut liegender und schwer zu bewachender Siedlungen und ein Rückzug Israels auf eine einfacher zu schützende Verteidigungslinie. Das wäre kein Frieden, sondern eher eine Grenzbereinigung. Aber es würde die Friktionen zwischen der palästinensischen Bevölkerung und den Besatzern vermindern, bis beide Seiten zu einer endgültigen Friedenslösung bereit sind.

Man muss Ariel Scharon nicht mögen, zumal er es mit seinem beißenden Spott auch nie darauf angelegt hat. Aber einer, der eine in Demokratien inzwischen selten gewordene Führungsstärke bewies und mit dem Rückzug aus Gaza – wenn auch spät – unter Inkaufnahme erheblicher Risiken das Richtige tat, der hat unsere Achtung verdient.

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