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Politik: An ihr zieht die alte Zeit

Von Tissy Bruns

Einmal mehr hat der gemeinsame Blick in den Abgrund seine mäßigende Wirkung entfalten müssen; von Dauer wird’s nicht sein. Wenn Wolfgang Clement heute und morgen erfolgreich mit der Union über Arbeitslosen und Sozialhilfe verhandelt, wird Franz Müntefering morgen kein trautes Gespräch mit DGB-Chef Michael Sommer führen. Es wird sich ein gewaltiges Gerechtigkeitsgeschrei erheben. Ganz von der Art, die viele Sozialdemokraten fragen lässt: Kann die SPD das überleben?

Müntefering hat nach hundert Tagen SPD-Vorsitz nichts zu feiern. Wenn gewählt wird, hagelt es Niederlagen, wenn ausnahmsweise nicht gewählt wird, zanken alle gegen den Reformkurs der Regierung. Müntefering und Gerhard Schröder sind in einer ganz anderen Lage als die erste sozialdemokratische Bundesregierung, die auch einen Kampf um eine neue Richtung durchzustehen hatte. Willy Brandt bekam mächtig Contra – aber eben auch viel Pro. Die SPD von heute wird zwischen Mühlsteinen zerrieben; was den einen zu wenig Reform, ist den anderen längst zu viel. Diese SPD macht es niemandem recht. Und dass die von ihr geführte Regierung vieles so schlecht macht, ist eine einleuchtende, aber nicht einmal die halbe Erklärung dafür.

Die Mühlsteine sind die alten Sozialpartner und Klassenkämpfer, Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften, umrahmt von einer öffentlichen Diskussion, die wechselweise den einen oder den anderen Standpunkt einnimmt. Dem strategischen Vorteil einer SPD-Regierung – nämlich durch Gewerkschaftsnähe den Widerstand gegen Einschnitte in soziale Besitzstände eindämmen zu können – steht ein gewaltiger Nachteil gegenüber: struktureller Legitimationsverlust. Denn zum Verbündeten macht sich gern „die Wirtschaft“, der alte Feind. Und zum Feind müssen sich die alten Verbündeten aufspielen, die Gewerkschaften, die unter dem Druck der Globalisierung gegen die Wirtschaft viel weniger durchsetzen können als früher. Halten Sie durch, hat BDI-Chef Michael Rogowski dem Bundeskanzler nach der Europa-Wahlniederlage zugerufen. Wirksamer kann der Glaubwürdigkeitsverlust der SPD nicht von außen in Szene gesetzt werden.

Aber inszenieren kann ein Wirtschaftsboss nur den Stoff, den die SPD selbst liefert. Die Glaubwürdigkeit der SPD hängt an der Gerechtigkeit, irgendwie. Schröders Agenda sei „Verrat“ daran, hat dieser Tage der Chef einer Gewerkschaft behauptet. Auch gut inszeniert. Gegen diesen Vorwurf ist die SPD wehrlos, ob ihr Vorsitzender Schröder oder Müntefering heißt. Denn SPD und Gewerkschaften haben in Deutschland das Lamento angefangen, das den Gerechtigkeitsbegriff auf die Formel heruntergebracht hat: Solange es einen Millionär gibt in Deutschland, darf keinem Arbeitslosen etwas weggenommen werden.

Ist das gerecht? Die alte Bundesrepublik hat diese Frage erst entdeckt, seit nicht mehr verteilt, sondern eingeschränkt werden muss. Von heute aus gesehen war es kleine Münze, die Helmut Kohl oder Norbert Blüm den Menschen zugemutet haben – aus Angst vor den Wählern und der Opposition, die bei allerkleinster Gelegenheit den Verrat am Sozialstaat an die Wand gemalt haben. Die SPD, die wie keine andere Partei zu großen inneren Wandlungen fähig war, hat sich verweigert, als ihre historische Mission erfüllt war. Sie hat nicht weiter gedacht, als der erfolgreiche, hoch entwickelte Sozial- und Wohlfahrtstaat selbst zur Quelle der Ungerechtigkeit wurde: Weil er viele ganz aus dem Arbeitsprozess ausgesperrt hat, damit die „drinnen“ auf nichts verzichten mussten. Weil er die Wohltaten der Gegenwart den Nachkommenden aufgelastet hat. Weil er mit der Suggestion der Gleichheit der Gesellschaft den Hunger auf Leistung und produktive Konkurrenz ausgetrieben hat.

Die SPD hat viele Probleme: lautstarke Wirtschaftsführer, Besitzstandswahrer, bockbeinige Gewerkschafter. Aber ihr größtes ist, dass niemand leidenschaftlich um die Agenda kämpft, obwohl sie ein Projekt für mehr zukünftige Gerechtigkeit, kurzum: sozialdemokratisch ist.

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