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Politik: „An manches denke ich nur mit roten Ohren“ CSU-Vize Horst Seehofer über die große Koalition,

halbgare Kompromisse – und das Positive des Vergessens

Herr Seehofer, macht es Sie traurig, dass das Gesundheitsministerium in einer großen Koalition an die SPD geht?

Nein. Seit dem Wahlabend bin ich ein Verfechter der großen Koalition. Und wenn man eine große Koalition will, muss man die Macht teilen. Das heißt, man verliert die Hälfte der Ministerien.

Die Union gibt aber gerade die Themen ab, bei denen sie im Wahlkampf angekündigt hat, da müsse reformiert werden. Etwa Finanzen oder Gesundheit. Dagegen haben Sie gar keine Einwände?

Ich verstehe die Unzufriedenheit auf beiden Seiten nicht. Es ist doch kleinkariert, wenn die einen sagen, wir haben Zukunftsministerien und die anderen, wir haben unpopuläre Ministerien. Eine große Koalition hat nur Erfolg, wenn man als Team denkt. Kästchendenken in Ressorts ist zum Scheitern verurteilt.

Noch ein Versuch: Die SPD besetzt die zentralen sozialpolitischen Ressorts – Gesundheit, Rente und Arbeit. Bleibt da nicht das soziale Profil der Union auf der Strecke?

Diese Befürchtung habe ich nicht. Voraussetzung für Sozialkompetenz ist nicht, dass man auch die Sozialministerien führt. Klar: Es wäre nicht gut, wenn die SPD die soziale Kraft der großen Koalition ist und die Union die Wirtschaftskraft. Wir sollten darauf achten, dass die Union diese Balance intern herstellt. Wir müssen ja an den Tag in vier Jahren denken, an dem die große Koalition zu Ende ist und wir wieder in den vollen politischen Wettbewerb mit der SPD treten. Mehrheitsfähig ist man in Deutschland nur, wenn man die zwei Pole einer Volkspartei glaubwürdig inhaltlich und personell vertritt – Wirtschaft und Soziales.

Sie waren in den letzten beiden Jahren Kronzeuge dafür, wie schwierig es für die Union ist, diese Pole zusammenzubringen. Was macht Sie so hoffnungsfroh, dass das in Zukunft gelingen kann?

Es muss gelingen. Die Union war immer dann bei Wahlen erfolgreich, wenn es gelungen ist, als Volkspartei die Balance zu halten. Wir haben 40 Jahre lang, bis 1994, bei jeder Bundestagswahl deutlich über 40 Prozent errungen. Es muss ja Ursachen haben, dass wir seit drei Wahlen die 40-Prozent-Marke nicht mehr geknackt haben. Wir müssen diese alte Stärke wieder erreichen, um mit einem klassischen Koalitionspartner wie der FDP eine Regierung bilden zu können.

Dann müssen Sie aber sehr stark werden. Oder erwarten Sie, dass die Linkspartei wieder aus dem Bundestag verschwindet?

Dafür kann nur die SPD sorgen. Aber wenn die Union die 40-Prozent-Marke überschreitet, ist mit einer halbwegs passablen FDP eine Mehrheit erreichbar. Durch eine ausgewogene Programmatik können wir als Volkspartei wieder die breiten soziologischen Schichten der Bevölkerung erschließen. Die Union muss wieder Politikinhalte und Personen präsentieren, mit denen wir mehr als 40 Prozent der Wähler ansprechen. Mit Personen meine ich übrigens nicht die künftige Kanzlerin, sondern das Fachpersonal.

Apropos: Sie haben vor kurzem gesagt, die Mitarbeit in einer großen Koalition sei für Sie reizvoll. Gilt das immer noch?

Ja.

Wie muss die Politik einer großen Koalition aussehen?

Das, was die Politik tut, muss eine positive Wirkung für unser Land und die Bevölkerung entfalten. Hartz IV ist ein abschreckendes Beispiel: Der Staat gibt mehr Geld aus, und die Arbeitslosigkeit steigt. Nur wenn die Qualität der Politik gut ist, werden wir das Vertrauen der Bürger gewinnen. Die große Koalition muss wirksame Reformen zustande bringen.

Sie machen uns Angst. Hartz IV war doch ein großkoalitionäre Reform.

Das war ein Projekt des Vermittlungsausschusses. Der Vorteil einer großen Koalition ist, dass wir in geordneten Gesetzgebungsverfahren die Qualität einer Reform absichern können. Das ist etwas ganz anderes als Kompromisse, die nach Mitternacht im Vermittlungsausschuss zusammengezimmert werden. In meiner eigenen politischen Verantwortung habe ich manches produziert, woran ich heute nur noch mit roten Ohren denke. Das sind dann meistens in letzter Minute zustande gekommene Entscheidungen…

Welche Überschrift würden Sie der großen Koalition geben?

Zukunft braucht wirtschaftlichen Erfolg, Zukunft braucht Mitmenschlichkeit. Wir können nicht alles, was wir tun, dem Diktat der Ökonomie unterwerfen. Für Sinnerfüllung und Glück im Leben sind auch noch andere Dinge maßgeblich: Regeln des Zusammenlebens, eine richtige Auffassung von der Gesellschaft der Zukunft. Ich will keine Gesellschaft der Egozentriker, sondern eine Gesellschaft, in der man solidarisch füreinander einsteht.

Im Koalitionsvertrag wird nicht die Gesundheitsprämie stehen, aber auch nicht die Bürgerversicherung. Was sollte stattdessen zur Gesundheit verabredet werden?

Wir brauchen in der Gesundheit und der Pflege Strukturreformen, um mehr Effizienz und mehr Qualität in beiden Systemen herzustellen. Seit fast einem Vierteljahrhundert diskutieren wir über diese Reformen, aber keine politische Konstellation hat sie je realisiert. Ich wollte das 1992 als Gesundheitsminister umsetzen, Ulla Schmidt bei der Gesundheitsreform 2004. Das ist insbesondere an den Widerständen der Verbände gescheitert.

Ulla Schmidt sieht die Chance, in einer großen Koalition gemeinsam gegen die Lobbyisten im Gesundheitswesen vorzugehen.

Meine Motivation ist nicht, einen Feldzug gegen die Lobbyisten anzustrengen. Aber wir müssen die überholten Strukturen im Gesundheitswesen den modernen Gegebenheiten anpassen. Das ist der dritte Weg neben Bürgerversicherung und Gesundheitsprämie.

Das heißt, die große Koalition geht an die Einnahmeseite der Krankenversicherung nicht heran?

Doch, sicherlich. Ich bin für Reformen mit Augenmaß. Ich habe immer Sympathien dafür gehabt, versicherungsfremde Leistungen wie die beitragsfreie Kindermitversicherung über Steuern zu finanzieren. Ich habe außerdem immer dafür gestritten, die Arbeitgeberbeiträge zu begrenzen. Wenn wir an der Einnahmesituation der Krankenversicherung nichts ändern, sitzen wir alle Vierteljahre im Koalitionsausschuss, um die neuen Defizite zu diskutieren.

Wenn Sie die Kindermitversicherung über Steuern finanzieren wollen, müssen sie einen Gesundheitssoli einführen oder die Mehrwertsteuer erhöhen.

Es ist sinnvoll, bestimmte Leistungen über Steuern zu finanzieren und dadurch die Lohnnebenkosten zu senken. Wir müssen doch eines sehen: Die Zahl der Erwerbstätigen ist in Deutschland gewachsen, die der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse gesunken. Die sind aber entscheidend für die Finanzierung der Sozialsysteme.

So argumentiert Angela Merkel auch, wenn sie für die Gesundheitsprämie wirbt.

Der Teil der Gesundheitsprämie ist ja auch in Ordnung. Die Umfinanzierung über Steuern würde ich nie kritisieren. Das, was mich gestört hat, ist der Einheitsbeitrag für alle. Die spannende Frage ist: Finanzieren wir in den nächsten Jahren schrittweise einen höheren Teil unserer Sozialausgaben über Steuern? Ich halte das für den richtigen Weg. Wenn die Einnahmebasis in den Sozialversicherungen wegbricht, muss die Politik darauf regieren. Wir können nicht auf der Ausgabenseite so viel sparen, wie auf der Einnahmeseite verloren geht.

Sind Sie froh, dass bereits im Vorfeld der Koalitionsverhandlungen auf Druck der SPD geklärt wurde, dass die Steuerfreiheit von Feiertags-, Nacht- und Schichtzuschlägen erhalten bleibt?

Ich trage meine Freude grundsätzlich im Herzen und nicht auf der Zunge.

Aber Sie finden es inhaltlich richtig?

Ja, ich bin froh.

Sie sind mit Ihrer Kritik am sozialen Kurs der Union ausgebootet worden. Fühlen Sie sich im Nachhinein bestätigt?

Ich schieße ja nicht schnell mal aus der Hüfte, sondern übe Kritik aufgrund von Überzeugung und Erfahrung. Das Kapitel ist jetzt aber vorbei und wird nicht jeden Tag neu aufgerührt. Dass CDU und CSU bei den Wahlen nicht so abgeschnitten haben, wie wir erhofft haben und wie es lange ausgesehen hat, hat Gründe. Aber es gibt den schönen bayerischen Spruch: Wenn ein Mensch alles vergisst, ist er arm dran. Aber wenn er nichts vergessen kann, ist er viel ärmer dran. Deshalb ist für mich die Vergangenheit jetzt auch wirklich Vergangenheit.

Von Ihnen ist der Satz überliefert: Wer Angela Merkel unterschätzt, hat schon verloren. Glauben Sie, dass die künftige Kanzlerin die neue Balance hinbekommt?

Ja.

Ja?

Ohne Wenn und Aber. Wer ihr das nicht zutraut, hat sie schon wieder unterschätzt.

Das Interview führten Robert Birnbaum und Cordula Eubel. Das Foto machte Mike Wolff.

SOZIALES GEWISSEN

Horst Seehofer hat sich seit seinem Einzug in den Bundestag 1980 immer wieder in der Sozialpolitik engagiert. Der 56-Jährige ist in der CSU-Basis und in der Bevölkerung als soziales Gewissen beliebt.

QUERKOPF

Der Ingolstädter löste 2004 monatelangen Streit zwischen CDU und CSU aus, weil er die Pläne zur Gesundheitsprämie nicht akzeptieren wollte. Am Ende musste er als Fraktionsvize für Soziales zurücktreten.

POLIT-PROFI

Der CSU-Mann hofft nun auf ein Comeback als Minister in einem Kabinett Merkel. Von 1992 bis 1998 war er bereits Gesundheitsminister in der Regierung Kohl.

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