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Analyse eines Duells: Generaldebatte: Gabriel poltert, Merkel kontert

Eigentlich stand nur Angela Merkels Etat zur Debatte. Tatsächlich ging es aber um ihre gesamte Politik. SPD-Chef Sigmar Gabriel nutzte es für ein Duell. Wie war es?

Von Antje Sirleschtov

Man nennt sie „Elefantenrunde“, weil die Spitzen von Koalition und Opposition auftreten. Sie findet so gut wie immer am ersten Mittwoch nach der Sommerpause des Parlamentes statt. Und sie dient sowohl der Koalition als auch der Opposition als willkommenes Ereignis, strategische Aufstellungen zu propagieren und politische Selbstvergewisserung zu betreiben. Die Rede ist von der Debatte des Bundestages über den Etat des Kanzleramtes, das parlamentarische Highlight zu Beginn der Haushaltsberatungen, die an diesem Dienstag begonnen haben und sich bis weit in den Herbst hinein ziehen werden.

Als die Bundeskanzlerin an diesem Mittwoch gegen 9 Uhr 40 ans Rednerpult trat, sah es so aus, als habe sie den Schlagabtausch mit dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel schon verloren. Rhetorisch, weil Angela Merkel bisher eher selten als mitreißende Debattenrednerin aufgefallen ist. Und diesmal auch emotional. Denn mit deutlichen Worten und vor allem treffenden Beispielen war es Gabriel zuvor gelungen, den seit einem dreiviertel Jahr anhaltenden Unmut in der Öffentlichkeit über die schwarz-gelbe Regierung ins kollektive Gedächtnis zu rufen. Und das saß. Denn bei Union und FDP weiß man selbst nur zu gut um das miese Image der eigenen Regierung.

Gabriel erinnerte noch einmal an die Angst von Union und FDP, vor der Nordrhein-Westfalen-Wahl im Frühjahr Entscheidungen zu treffen, die das dort bis dato regierende schwarz-gelbe Bündnis gefährden könnten. Diese Angst, die mit jedem Monat wie eine Lähmung erschien und dann letztendlich zu dem geführt hatte, was Merkel eigentlich verhindern wollte: Die Abwahl von CDU und FDP an Rhein und Ruhr, was auch den Verlust der Mehrheit im Bundesrat bedeutete. Aber Gabriel führte Union und FDP auch die Fehlentscheidung, Hoteliers und vermögenden Erben Steuergeschenke zu verschaffen, während parallel dazu der FDP-Vizekanzler Guido Westerwelle eine scharfe Sozialdebatte über Langzeitarbeitslose vom Zaun brach, vor Augen. Genau wie den Verdacht, die Regierung bediene die Interessen einzelner Lobbygruppen und verliere darüber das Wohl des Volkes aus dem Blick. Die Debatte um die Verlängerung der Atomlaufzeiten dienten ihm als jüngstes Beispiel. „Keinerlei Vorstellung von Gemeinwohl“, habe Schwarz-Gelb, warf der SPD-Vorsitzende unter lautem Beifall der gesamten Opposition dem Regierungsbündnis vor und attestierte schließlich: „Noch nie ist eine Regierung so heruntergekommen.“

Bis hierhin hätte Merkel die Vorwürfe ihres sozialdemokratischen Widersachers mehr oder weniger gleichgültig an sich abtropfen lassen können. Dass der Chef der größten Oppositionspartei in einer so wichtigen Parlamentsrede kein gutes Haar an der Regierung lässt, das ist das Mindeste, was er leisten muss.

Gabriel allerdings gelang an diesem Mittwochmorgen mehr: Er warf Außenminister Westerwelle vor, was selbst unter schwarz-gelben Außenpolitikern mittlerweile Konsens ist. Dass nämlich Westerwelle „Deutschland unter seiner Bedeutung“ regiere und keinerlei außenpolitische Impulse setzt. Er nennt den FDP-Wirtschaftsminister Rainer Brüderle den „größten Abstauber“ der Politik, weil er vor zwei Jahren gegen Konjunkturprogramme gestimmt hatte, und sich nun im Wirtschaftsaufschwung sonne. Ein Messerstich ins Herz vor allem wirtschaftsfreundlicher Unionspolitiker, die sich dereinst vom Oppositionspolitiker Brüderle beschimpfen lassen mussten, um nun zuzusehen, wie der gleiche Brüderle eine positive Konjunkturbotschaft nach der anderen verkündet und so tut, als sei er dafür verantwortlich. Und auch den Sozialpolitikern in den schwarz-gelben Reihen ersparte Gabriel nichts. „Ohne jeden wirtschaftspolitischen Verstand“ regiere Schwarz-Gelb und treibe damit die soziale Spaltung der Bevölkerung weiter voran. „Die einen leben in Saus und Braus“, sagte Gabriel unter Verweis auch auf die Kürzung des Elterngeldes für Hartz-IV-Empfänger, „und die anderen müssen die Zeche zahlen.“ Ein Resümee, das die Anwesenden von Union und FDP traf: Wie in flagranti beim Klauen erwischte Rotznasen saßen die versammelten Koalitionäre beinahe regungs-, auf jeden Fall aber wehrlos auf ihren Stühlen und ließen sich von Gabriel herunterputzen. Und als Merkel schließlich ans Rednerpult trat und zunächst noch einmal an den Ausbruch der Finanzkrise vor zwei Jahren und den damit verbundenen wirtschaftlichen Niedergang erinnerte, sah es einen Moment lang danach aus, als habe der SPD-Chef auch sie, die Kanzlerin, in die Defensive gezwungen.

Doch Merkel hat eine Strategie. Sie ist augenscheinlich über die schiere Erkenntnis der Fehler ihrer schwarz-gelben Regierung spätestens seit Anfang September hinweg, will sich jetzt mit Eingeständnissen und Entschuldigungen nicht mehr aufhalten. Sechs Monate sind es noch bis zur ersten von sechs Landtagswahlen, die ihre Partei im kommenden Jahr zu bestehen hat. Und die schwierigste davon, die Abstimmung im März in Baden-Württemberg, droht für alle sichtbar auch zur Abstimmung über ihre zweite Kanzlerschaft zu werden. Was also soll sie tun, um den sich seit Wochen abzeichnenden Trend eines erdrutschartigen Stimmverlustes für die im Ländle regierende schwarz-gelbe Koalition zumindest so weit zu verhindern, dass er – wiederum erdrutschartig – keine Folgen für Berlin hat? Merkels Antwort darauf: Sie kündigt einen „Herbst der Entscheidungen“ an. Sie vergewissert sich und ihre Koalition, dass die im Koalitionsvertrag vom letzten Herbst festgehaltenen Pläne aus der gemeinsamen Einsicht entstanden sind, die richtigen Entscheidungen für die Zukunft des Landes zu treffen. Und sie macht klar, dass Christdemokraten und Liberale zu diesen Entscheidungen stehen können, statt sich von den Anwürfen der Opposition verunsichern zu lassen – sie fordert „Standhaftigkeit“ und „Ernsthaftigkeit“ ein.

Dafür beschreibt sie einen äußerst riskanten Weg, den sie bereit ist zu gehen. Ausgerechnet am Beispiel von „Stuttgart 21“, dem einst vom baden-württembergischen Landesparlament einschließlich der SPD beschlossenen Milliardenumbau des Stuttgarter Bahnhofs, der von den Bürgern seit Wochen mit Massenprotesten bekämpft wird. Von den Grünen, sagt Merkel, habe sie erwartet, dass die sich von diesem „wichtigen Infrastrukturprojekt“ verabschieden. Die seien nur so lange für den Bahnverkehr, bis es darum gehe, einen Bahnhof zu bauen. Der SPD wirft sie vor, angesichts des Bürgerprotestes einzuknicken. Sie allerdings werde für ihre Überzeugung eintreten. Auch jetzt, wo der Protestwind ins Gesicht weht. „Sie will sich nicht kleinkriegen lassen und kämpfen“, erläutert später ein Unionsmann Merkels Schritt in die Offensive, die sie zuvor selbst so beschrieben hat: „Wir werden handeln und nicht den Kopf in den Sand stecken.“

Einen Kurswechsel kann man das allerdings nicht nennen. Nach wie vor bestimmen eher nüchterne Vokabeln wie „die Realität betrachten“, „rational entscheiden“ und „auch unbeliebte Weichen für die Zukunft stellen“ die Strategie, mit der Merkel aus dem Umfragetief herauskommen will. So erläutert sie ihren Sparkurs als „einzige Chance“, den Euro stabil zu halten, damit die Inflation zu begrenzen und Spielräume für Bildungspolitik zu schaffen. So rechtfertigt sie die längeren Laufzeiten für Atommeiler als „wirtschaftlich vernünftig“ und weist die „ideologiegetriebenen“ Vorwürfe der Opposition zurück. Und so verteidigt Merkel auch die schrittweise Abkopplung der Beiträge für Krankenversicherung von den Arbeitskosten. Wer ihr sozialen Kahlschlag vorwirft, sagt Merkel, „der lügt“. Sie sehe sich in der Pflicht, Entscheidungen zu treffen, die den Wohlstand des Landes in der Zukunft sichern. „Auch, wenn das nicht immer populär ist“. Denn das wirft sie insbesondere der SPD vor: Beim Rentengesetz „die Realität nicht zur Kenntnis nehmen“ und beim Euro „historisches Versagen“. Als Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) den Stabilitätspakt aufgeweicht hat und als sich die SPD beim EU-Rettungsfonds vor einigen Wochen der Stimme enthielt.

Will Merkel den Trend umkehren, muss sie das „Getöse“ innerhalb ihrer Koalition abstellen. Sie weiß das und macht an diesem Mittwoch selbst den Konservativsten in ihren Reihen ein Angebot. Entgegen ihrer Überzeugung verteidigt sie das „Betreuungsgeld“ für zu Hause erziehende Mütter gegen die „Diffamierung“ als Herdprämie. Die Union, aber auch die FDP, haben Merkels Botschaft an diesem Mittwoch verstanden. Lang war der Applaus, als sie das Podium verließ und zufrieden die Gesichter.

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