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Jahrelang galt Andrea Nahles als Kampflinke. Sie wurde wenig gemocht, stieß immer wieder Leute vor den Kopf.

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Andrea Nahles: Die wichtigste Frau der SPD

Jahrelang galt Andrea Nahles als Kampflinke. Sie wurde wenig gemocht, stieß immer wieder Leute vor den Kopf. Dabei war es einfach nur ungewohnt, eine junge Frau nach der Macht greifen zu sehen. Doch das Blatt hat sich gewendet.

Noch kann sie sich an den Gedanken einfach nicht gewöhnen. Es ist ein kalter Montagmorgen im Februar, ihr erster Auslandsbesuch steht an. Andrea Nahles ist müde, als sie gegen sechs Uhr in den Regierungsflieger nach Paris steigt. Und dann steht da dieser Soldat und salutiert der SPD-Ministerin. „Da macht jemand Zack so früh am Morgen, ich war richtig erschrocken“, gesteht sie. „Das finde ich immer noch ungewohnt.“ Sie muss über sich selbst lachen. Es ist der Gedanke, dass sie jetzt Macht hat. Gestaltungsmacht.

Doch wenn es auch zuweilen noch diese Momente gibt, in denen die 43-Jährige sich über sich selbst wundert, hat doch niemand sonst in der SPD so schnell und konsequent den Satz für sich entdeckt: Ich regiere jetzt. Ihr blieb allerdings auch keine Wahl. Union und SPD wollen die gemeinsamen Rentenpläne ab Juli umgesetzt sehen, und 2015 soll der gesetzliche Mindestlohn greifen. Als sie am gestrigen Mittwoch zu einem Hintergrundgespräch in den Steinsaal des Ministeriums bat, verkündete sie stolz, dass der Mindestlohn kommt, „ohne Ausnahmen“. Sie arbeitet am symbolträchtigsten Versprechen der SPD, an ihm wird die Partei in dieser Wahlperiode gemessen werden.

Es ist für Andrea Nahles die Erfüllung eines Lebenstraums: Bundesministerin für Arbeit und Soziales. Die Sozialgesetzgebung ist ihr ein vertrautes Terrain, das hat den Start erleichtert. Als sie 1995 Juso-Vorsitzende wurde, kämpfte sie für mehr Ausbildungsplätze. Wenig später ergatterte sie als junge Abgeordnete im Bundestag einen Platz im Sozialausschuss. „Ich mache jetzt das, was ich immer machen wollte“, sagt sie. „Anstrengungslos“ ist ein Wort, das ihr einfällt, wenn sie über ihre neue Aufgabe nachdenkt. „Das geht mir einfach gut von der Hand.“

Zuständig für die Herzensthemen

Sie ist nun für die Herzensthemen der SPD zuständig, bei denen die Partei wieder glaubwürdig werden will, und soll beweisen, dass die SPD es mit sozialer Gerechtigkeit ernst meint. Sie soll auch wieder das Vertrauen derer gewinnen, die der Partei Hartz IV und die Rente mit 67 übel nehmen. Gelingt ihr das, steht der Sozialdemokratie womöglich eine Renaissance bevor. Wenn nicht, berappelt sich die Partei auch bis zur nächsten Wahl nicht.

Auch deshalb ist ihr der gesetzliche Mindestlohn so wichtig, auf den die Gewerkschaften seit Jahren warten. Für das Prestigeprojekt war Nahles bereit, in den Koalitionsverhandlungen an anderer Stelle Zugeständnisse zu machen. Beim Mindestlohn blieb sie hart. Mit einem Mindestlohn light hätte die SPD ihre Mitglieder im vergangenen Herbst kaum überzeugen können, der großen Koalition zuzustimmen. Angela Merkel wusste, dass sie diesen Preis für das Bündnis würde zahlen müssen.

Es ist auch eine Art Vorauszahlung für Nahles. Die hat sofort losgelegt, am Tag vor Heiligabend besprach sie mit den Abteilungsleitern die Grundzüge der Rentenreform. Drei Wochen später war der Gesetzentwurf fertig. Ein „Husarenritt“, wie sie in einem Interview sagte. Es war eine Phase, die ihr auch körperlich viel abverlangt hat, wie man an ihrem hartnäckigen Husten hören konnte. Als sie als Erste aus der Regierung etwas vorweisen konnte, machte sie das geradezu euphorisch. Bei der Unterschrift des Gesetzentwurfs habe sie sich „einen kleinen Moment des Stolzes“ gegönnt, gesteht Nahles. Es dürfte ein großer Moment gewesen sein, so breit wie sie in der Erinnerung daran grinsen muss.

Belohnung: ein Platz im Kabinett

Die Sozialdemokratin war eine der wenigen, die damit rechnen konnte, dass sie von SPD-Chef Sigmar Gabriel für ihre Plackerei als Generalsekretärin mit einem Platz im Kabinett belohnt wird. Als sie am 17. Dezember zur Ministerin ernannt wurde, hatte sie einen Plan, wen sie an die Schaltstellen in ihrem neuen Haus setzen wollte. Sie brachte Vertraute mit, die sie zum Teil seit Jahren begleiten und sich auch untereinander gut kennen. Da ist ihr jetziger Büroleiter, den sie aus Juso-Zeiten kennt, dessen Vorgänger wurde ihr Staatssekretär. Und SPD-Chef Sigmar Gabriel stellte ihr mit dem bisherigen EZB-Direktor Jörg Asmussen jemanden als Staatssekretär an die Seite, der sich in der Ministerialbürokratie auskennt. Sie alle sollen helfen, dass bei den vielen Gesetzesvorhaben keine groben handwerklichen Schnitzer passieren. Schließlich will die SPD beweisen, dass sie gut regieren kann.

In der SPD der Kerle galt Nahles immer wieder als Hoffnungsträgerin, Oskar Lafontaine bezeichnete sie als „Gottesgeschenk“ für die Partei. Als Generalsekretärin gehörte es in den letzten vier Jahren zu ihren Aufgaben, jede Wendung der SPD zu verteidigen. Dafür trat sie montags nach den Gremiensitzungen vors Mikrofon. Es ist eine der unangenehmsten Tätigkeiten, die eine Partei zu vergeben hat. Auch vielen Vorgängern ist die Rolle nicht gut bekommen: Olaf Scholz wurde wegen seiner gestanzten Formulierungen als „Scholzomat“ verspottet, Hubertus Heil blieb farblos. Und Nahles bekam auf Parteitagen regelmäßig den Frust der SPD zu spüren, sie wurde mit schlechten Wahlergebnissen abgestraft. Ihre Gegner warfen ihr vor, aus der rebellischen Parteilinken sei ein „Apparatschik“ geworden.

Doch seit Nahles Ministerin ist, wirkt sie befreit. An einem Montagabend im Februar sitzt sie in ihrem neuen Büro, viel Zeit zum Einrichten hat sie nicht gehabt. Aus ihrer Heimat hat die Katholikin ein Holzkreuz mitgebracht, es stammt aus einer Werkstatt der Abtei Maria Laach in der Eifel. An einem Rollcontainer klebt eine Zeichnung ihrer dreijährigen Tochter Ella. Nahles erzählt, wie sich ihr Leben in den letzten Monaten geändert hat. Früher hätten Gesprächspartner schon mal getestet, welche Substanz sie bieten könne. Das passiert jetzt nicht mehr. Sie merkt das bei den zahlreichen Antrittsbesuchen, die sie in den letzten Wochen absolviert. „Ich habe den Eindruck, dass ich jetzt nicht mehr beweisen muss, dass ich das kann“, sagt sie.

Manchmal steht sie sich mit ihrem Temperament selbst im Weg

Andrea Nahles besetzt mit dem Arbeitsministerium ein Kernressort der Sozialdemokraten.
Andrea Nahles besetzt mit dem Arbeitsministerium ein Kernressort der Sozialdemokraten.

© AFP

Und noch etwas ist anders. Nahles erzählt, wie sich ihre Wochenenden entspannt haben. Mit ihrem Mann und ihrer Tochter lebt sie in ihrem Heimatdorf Weiler, einem Örtchen mit 500 Einwohnern in der Eifel, im umgebauten Haus ihrer Urgroßeltern. Wenn sie dort am Sonntag ihre kleine Tochter ins Bett gebracht hat, setzt sie sich an den Schreibtisch und geht noch mal ihre Ministeriumsvorlagen durch. Aber der Druck ist nicht mehr derselbe wie früher. Sie muss nicht mehr schon sonntags überlegen, was sie am Montag in der Pressekonferenz erklärt.

Von der Eifel ist es weit bis nach Berlin. Die Pendelei ist kräftezehrend. Aber das Leben auf dem Land gibt ihr Erdung, sagt Nahles. Schon in ihrer Zeit als Generalsekretärin hat sie ihre Arbeitstage vollgepackt, um zu Hause Zeit für ihre Tochter zu haben. Auch heute sitzt sie oft spätabends im Büro, um Akten zu lesen. In ihrer Disziplin ähnelt sie, so unterschiedlich die beiden auch sonst sind, ihrer Vorgängerin Ursula von der Leyen. Von ihr hat Nahles die kleine Kammer hinter dem Büro übernommen, in der sie übernachtet. Ein Provisorium, das sie sehr praktisch findet. Für die Suche nach einer neuen Wohnung blieb keine Zeit.

Ihre Berater setzen darauf, dass „die Andrea aus der Eifel“, wie sie sie nennen, auch durch ihre Lebensgeschichte glaubwürdig wirkt. Was Malochen bedeutet, weiß sie von zu Hause. Wenn sie in diesen Tagen die Rente mit 63 verteidigt, erzählt Nahles von ihrem Vater, der als Maurer mit 61 Jahren aufhören musste zu arbeiten, weil Rücken, Schulter und Knie nicht mehr mitmachten, und der deshalb bei der Rente Abschläge in Kauf nehmen muss. Nahles war die Erste aus ihrer Familie, die studierte. In dem Ort, in dem sie groß geworden ist, gründete sie als Teenager den SPD-Ortsverein. Ihre Eltern waren anfangs entsetzt, später traten sie ebenfalls ein.

Seit 1997 ununterbrochen im Parteivorstand

Anders als ihre Kabinettskollegin Manuela Schwesig hat Nahles die lange Ochsentour durch die Partei hinter sich: Ortsverein, Juso-Unterbezirks- und Landeschefin, schließlich Vorsitzende der Bundes-Jusos und damit Sprachrohr des linken Parteiflügels. Seit 1997 ununterbrochen im Parteivorstand. Die SPD-Basis kennt sie besser als jeder andere aus der Führungsriege der Partei. „Du weißt, was die Partei fühlt“, bescheinigte ihr Sigmar Gabriel, als sie auf dem Parteitag im Januar als Generalsekretärin verabschiedet wurde. Ein ungewohnt sentimentaler Moment, Gabriel nahm Nahles in den Arm, und das nach jahrelangen beiderseitigen Animositäten. Doch er weiß auch, wie sehr es jetzt auf sie ankommt.

Manchmal steht die SPD-Frau sich mit ihrem Temperament allerdings selbst im Weg. Schon lange trägt sie nicht mehr die Lederjacke aus Juso-Zeiten, sondern Bluse und Jackett. Auch die wilde Lockenmähne hat sie in den letzten Jahren gezähmt. Doch es gibt kaum eine weibliche Spitzenpolitikerin, die so aneckt. Nahles entspricht einfach nicht dem Klischee der Karrierefrau. Gesprächspartnern haut sie schon mal kräftig auf die Schulter, eine kumpelhafte Geste, wie sie sonst unter Männern üblich ist. Im Bundestag stellte sie sich im vergangenen Herbst ans Rednerpult und fing an, ein Kinderlied zu singen („Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“). Ihr Auftritt, mit dem sie den Wahlkampf der Kanzlerin kritisierte, wurde zwar zum Hit bei Youtube, aber selbst sozialdemokratische Kollegen fanden ihn kindisch.

Nahles weiß, dass sie Leute manchmal vor den Kopf stößt. Dass sie bei einigen Aggressionen hervorruft, ist allerdings erstaunlich. Liegt es daran, dass es immer noch ungewohnt ist, wenn Frauen Machtkämpfe austragen? Nahles hat das immer wieder getan, offen, nicht hinterrücks. 2005 forderte sie den damaligen SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering heraus. Sie wollte Generalsekretärin werden, im Parteivorstand setzte sie sich gegen seinen Kandidaten durch. Als Müntefering zurücktrat, musste Nahles mit dem Ruf der „Königsmörderin“ leben, sie zog sich auch in die zweite Reihe zurück.

Sie musste sich immer wieder neu beweisen

Den Männern in ihrer Partei haben solche Kämpfe meistens nicht geschadet. Gerhard Schröder festigte als Bundeskanzler mit „Basta“-Politik sein Image als Macher-Typ. Oskar Lafontaine putschte sich 1995 zum SPD-Vorsitzenden, ohne dass sein Ansehen gelitten hätte. Von beiden ist Nahles als Politikerin geprägt worden: Lafontaine war für sie lange Vorbild, die junge Juso-Chefin verhalf ihm 1995 auf dem Parteitag in Mannheim zur Macht. An Schröder arbeitete sie sich jahrelang ab, attackierte ihn als „Abrissbirne sozialdemokratischer Programmatik“.

Ohne diese Kämpfe hätte Nahles es nie so weit gebracht. Sie musste sich immer wieder neu beweisen: Als sie in Mutterschutz ging, gab es im Willy-Brandt-Haus Getuschel, ob sie das wirklich hinbekommen werde, mit dem Baby und dem anstrengenden Job als Generalsekretärin. Nur zwei Monate nach der Geburt kehrte sie nach Berlin zurück. Sie musste das schwierige parteiinterne Verfahren gegen Thilo Sarrazin übernehmen. Nahles hat sich nicht anmerken lassen, wie sehr sie diese Zeit mitgenommen hat. „Nach zwei Monaten wieder in den Job einzusteigen, war brutal“, erzählt sie heute, mit Abstand. So hart, wie sie zuweilen mit anderen umspringt, so hart ist sie auch zu sich selbst.

Noch landet Nahles bei Beliebtheitsumfragen auf den hinteren Politikerplätzen. Doch bei den Leuten, mit denen sie jetzt regelmäßig zu tun hat, steigt ihr Ansehen spürbar. Beim Koalitionspartner gibt es zwar Gemurre über ihre harte Haltung in Sachen Mindestlohn und Rente mit 63. Doch in der Union haben sie in den vergangenen Monaten überrascht festgestellt, wie organisiert Nahles ist und wie umgänglich. Nicht die linke Ideologin, sondern diskussionsfreudig. Auch Wirtschaftsvertreter loben, wie sehr sie von der SPD-Frau eingebunden werden.

Der Sprung zur Ministerin – vielleicht war er doch gar nicht so groß, wie manche vorher gedacht haben.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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