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© Artur Torosyan

Andrej Kolesnikow: "Wann hatten Sie das erste Mal Sex, Herr Putin?"

Andrej Kolesnikow weiß eine Menge Kurioses über den Premierminister zu erzählen: Er jagte als Kind Ratten, träumt von der Monarchie – und lacht über alles und jeden.

Herr Kolesnikow, auf vielen Fotos von Wladimir Putin sieht man Sie im Hintergrund. Sie begleiten ihn seit mittlerweile zehn Jahren. Duzen Sie sich?



Nein, um Gottes willen! Ich bin Journalist, er ist Politiker. Wenn man diese Grenze überschreitet, verliert man seine Unabhängigkeit. Aber es gab in all diesen Jahren natürlich einige vertrauliche Gespräche mit Putin, die mir viel bedeutet haben.

Zum Beispiel?


Vor ein paar Jahren haben wir uns lange über die Pressefreiheit unterhalten. Ich konfrontierte Putin damit, dass er das Fernsehen in eine Propagandawaffe verwandelt hat, dass die Leute bei den Sendern sich nicht mehr in die Augen sehen können, weil sie sich voreinander schämen. Putin fragte zurück: Und die Zeitungsleute, tut man Ihnen etwas? Ich sagte: Nein, uns lässt man in Ruhe – aber wenn das Fernsehen nicht frei ist, dann herrscht keine Pressefreiheit. Putin stimmte mir sogar zu, sagte aber, die Lage sei nicht zu ändern: Das Fernsehen sei so, wie es diese Gesellschaft brauche, und ein anderes Fernsehen werde es erst geben, wenn die Gesellschaft bereit sei.

Hält er die Russen für unreife Kinder?


Er selbst würde wohl sagen: Wenn man die öffentliche Meinung nicht steuert, wählen die Russen einen Kommunisten zum Präsidenten, und die Gesellschaft fällt in die sowjetische Ära zurück. Er glaubt, dass die Medien den Menschen unpopuläre Modernisierungsmaßnahmen schmackhaft machen müssen. Und erst, wenn der liberale Wandel unumkehrbar ist, kann man es sich erlauben, die Gesellschaft nicht mehr zu lenken.

Kürzlich haben Sie in Moskau eine Vorlesung für Journalismusstudenten gehalten. Sie erklärten, dass man sich als Journalist grundsätzlich in Opposition zur Macht befindet. Ist es nicht gefährlich, russischen Journalisten so etwas beizubringen?


Das ist meine Überzeugung.

Es war auch Anna Politkowskajas Überzeugung.

Journalisten, die sich wie Anna Politkowskaja mit Krieg und organisierter Kriminalität beschäftigen, leben in der Tat gefährlich. Und da es in Russland gelegentlich Kriege gibt und immer Kriminalität, ist es hier für Journalisten vermutlich etwas gefährlicher als anderswo.

Werden Sie manchmal gebeten, über irgendetwas nicht zu schreiben?

Nein. Was mich angeht, kann ich versichern, dass mir keine Beschränkungen auferlegt sind. Obwohl einige Artikel Putin zweifellos gekränkt haben.

Woher wissen Sie das?


Das merkt man, wenn man jemanden ständig sieht. Es erscheint ein Artikel, und plötzlich läuft er an dir vorbei, grüßt nicht mehr. Dann vergeht ein halbes Jahr, er vergisst es und grüßt wieder.

Fühlt sich Putin von kritischen Fragen gekränkt?


Nein, im Grunde schätzt er sie. Sie sind ihm sehr viel lieber als dumme Fragen.

Was haben Sie ihn denn Dummes gefragt?

Wann er entjungfert wurde. Das ergab sich so, als er nach einer Konferenz zu mir sagte: Es reicht, Sie haben mich alles gefragt, fehlt noch, dass Sie wissen wollen, wann ich zum ersten Mal Sex hatte. Darauf ich: Wladimir Wladimirowitsch, wann hatten Sie zum ersten Mal Sex? Seine Antwort: An das erste Mal erinnere ich mich nicht, an das letzte Mal dagegen sehr gut. Darauf ich: Wladimir Wladimirowitsch, wann hatten Sie das letzte Mal Sex? Keine Reaktion. Ohne nachzudenken hat er dagegen meine Frage nach dem Sinn des Lebens beantwortet: Selbstvervollkommnung. Medwedew hat neulich auf dieselbe Frage geantwortet: Liebe. Das hat mir besser gefallen.

Erinnern Sie sich an Ihre erste Begegnung mit Putin?

Das war im Januar 2000. Mir und zwei Kolleginnen wurde damals vorgeschlagen, ein Buch über diesen Wladimir Wladimirowitsch zu schreiben, der gerade Premierminister geworden war. Er hatte angekündigt, im März als Präsident zu kandidieren. Allen war klar, dass er gewählt werden würde, aber niemand wusste, wer er ist. Sofort formierte sich vor dem Kreml eine Schlange von Journalisten, alle wollten ein Interview.

Warum bekamen ausgerechnet Sie es?


Putin hatte begriffen, dass man etwas über ihn wissen musste, damit hinterher niemand sagen konnte: Wir haben einen Präsidenten gewählt, den wir nicht kennen. Also erklärte er sich bereit. Wir unterhielten uns viele Stunden, manchmal bis vier Uhr morgens, fast einen ganzen Monat lang.

Durften Sie das dann auch alles drucken?


Putin wollte keine Eingriffe. Vielleicht, weil man ihm das als Schwäche hätte auslegen können, vielleicht auch, weil er schätzte, was wir taten. Es gab da eine Geschichte aus seiner Zeit in Dresden …

… wo er in den 80er Jahren als KGB-Agent stationiert war.


Putin erzählte, er habe dort Bekannte in einen Stripclub mitgenommen. Als sich vor ihnen ein Schwarzer auszog, verlor eine seiner Begleiterinnen das Bewusstsein. Putin schleppte die Frau in einen Nebenraum und spritzte ihr Wasser ins Gesicht, bis sie wieder zu sich kam. Genau in dem Moment tauchte der Schwarze auf, immer noch nackt. Putins Begleiterin fiel wieder in Ohnmacht.

Lustig. Aber nicht gerade politisch brisant.

Interessanter waren Putins Pläne. Er sagte: In meinen zwei Amtszeiten als Präsident werde ich …

Moment mal – er wusste damals schon, dass er acht Jahre lang Präsident bleiben würde?

Er sagte: Es wäre sinnlos, ein Programm für eine Amtszeit zu entwerfen. Für die Herausforderungen, vor denen Russland steht, sind mir vier Jahre zu wenig. Im Übrigen hat er fast alles, was er uns damals erzählte, tatsächlich umgesetzt. In dem Buch spricht er schon von der Abschaffung der Gouverneurswahlen. Umgesetzt hat er das erst in seiner zweiten Amtszeit, nach dem Geiseldrama von Beslan. Eigentlich finden sich in dem ganzen Buch nur zwei Ideen, die Putin bisher nicht realisiert hat.

Jetzt sind wir gespannt.

Erstens: Wiedereinführung der Monarchie.

Das ist nicht Ihr Ernst!


Meiner nicht. Bei Putin bin ich mir nicht sicher. Er sagte, das Gute an einem Monarchen sei, dass er nicht über Wahlen nachdenken müsse. Seine Amtszeit ist unbegrenzt, er lässt sich von nichts ablenken und sorgt sich allein um das Wohl seiner Bürger. Als Putin das erzählte, mussten wir lachen, genau wie Sie jetzt. Er fragte: Warum lachen Sie? Vieles, was für unmöglich gehalten wurde, ist eingetreten – denken Sie an den Fall der Mauer.

Woher soll der Zar kommen? Das Romanow-Geschlecht wurde von den Bolschewiken ausgelöscht.

Vielleicht taucht ein neues Zarengeschlecht auf.

Namens Putin?

Kinder hat er ja.

Putin, der lupenreine Monarch. Ist die zweite Idee genauso irre?

Das müssen Sie beurteilen: Putin erklärte, Russland solle der Nato beitreten.

Aber er schimpft doch immer nur auf das Bündnis.


Natürlich gefällt ihm vieles nicht an der Nato. Aber genau deshalb will er ja den Beitritt: Er setzt darauf, dass Russland die Nato als Mitglied verändern könnte. Ich glaube, dass er sich von dieser Idee bis heute nicht verabschiedet hat.

Monarchie und Nato-Beitritt – das sind ziemlich widersprüchliche Ideen.

Warum? Es gibt doch Monarchien in der Nato. Denken Sie an England, an Spanien.

Das dürfte nicht die Art von Monarchie sein, von der Putin träumt.


Wie gesagt: Fast alles, was er damals ankündigte, hat er auch umgesetzt. Auf die Frage nach seinem möglichen Nachfolger nannte er damals den Namen Medwedew! Ich muss mal nachschlagen, ob in dem Buch etwas über Putins Rückkehr ins Präsidentenamt steht. Andere Quellen zu dieser Frage gibt es leider nicht.

Haben Sie denn den Eindruck, dass Putin wieder Präsident werden will?

Im Mai 2008, als er gerade zum Premier abgestiegen war, konnte man ihm förmlich ansehen, wie sehr ihn seine neue Stellung nervte.

Woran hat man das gemerkt?


Es hat ihm einfach nichts gepasst – die Qualifikation seiner Mitarbeiter, das Niveau seiner Gesprächspartner, die Reichweite seiner Entscheidungen. Ihm stand mit großen Buchstaben ins Gesicht geschrieben: Mich interessiert das nicht. Inzwischen habe ich das Gefühl, dass er in seiner neuen Stellung auch viele Vorteile sieht. Wenn man ihn und Medwedew auf ihre Rollenverteilung anspricht, bekommt man immer nur zu hören: Bei uns ist alles in Ordnung.

Glauben Sie das wirklich?

Ich glaube, dass tatsächlich alles in Ordnung ist – bis auf ein Detail: Bei den nächsten Wahlen kann nur einer von ihnen als Präsident kandidieren.

Zeichnet sich da ein Streit ab?

Ich glaube, bisher hat Putin noch nicht entschieden, ob er zurück ins Präsidentenamt will. Wenn er will, wird es interessant, denn er kann nicht einfach zu Medwedew sagen: Ich habe dich zum Nachfolger gemacht, jetzt musst du mir den gleichen Gefallen tun. Wenn Medwedew aber alles richtig macht, gibt es keine Argumente für Putins Rückkehr. Und wenn es Argumente gibt, bedeutet das, dass Medwedew irgendetwas nicht hinkriegt – warum sollte man ihn sonst ersetzen?

Ist es für Putin nicht egal, wer an der Spitze steht? Er gibt sowieso die Befehle, egal in welcher Funktion.

Da machen Sie es sich zu leicht. Medwedew hat erkennbar eigene Ambitionen, und dass die politische Verantwortung inzwischen größtenteils bei ihm liegt, steht außer Frage. Er berät sich natürlich mit Putin. Aber er ist keine Marionette.

Erinnern Sie sich an eine Geschichte, die besonders typisch ist für Putin?

Ja. Putin war damals zehn Jahre alt, er lebte mit seiner Mutter in einer Leningrader Mietwohnung. Im Treppenhaus wimmelte es von Ratten, die die Jungs im Haus mit Stöcken jagten. Einmal verfolgte Putin ein besonders fettes Exemplar bis ins Dachgeschoss und trieb es dort in eine Ecke. Das Tier sah nur einen Ausweg: Es sprang Putin an. Er rannte weg, die Ratte hinter ihm her, bis Putin ihr die Wohnungstür vor der Nase zuschlug. Putin sagt, er habe an diesem Tag begriffen, dass man niemanden in die Enge treiben darf. Ein Prinzip, an das er sich leider nicht immer hält.

Sie denken an Michail Chodorkowski, den inhaftierten Milliardär, dem der Ölkonzern Jukos gehörte?

Putin ist überzeugt, dass Chodorkowski den Staat angegriffen hat, dass er Blut an den Händen hat. Damit ist er Putins persönlicher Feind. Denn Putin ist der Staat. So ist seine Logik.

Deshalb hat er Chodorkowski in die Enge getrieben.


Man hat Chodorkowski seine Firma und seine Freiheit genommen. Trotzdem weigert er sich bis heute, in die Knie zu gehen. Moralisch hat Putin ihn nicht besiegt.

Wenn in Russland über Politik geredet wird, klingt das in westlichen Ohren immer so mittelalterlich: Überall Feinde und Verrat und blutige Hände …

So ist die Politik in Russland. Blutig. Bis heute.

Putin sagt in einem ihrer Bücher, er halte es für wichtig, Fehler einzugestehen. Noch so ein Prinzip, an das er sich nicht immer hält.

Stimmt, das tut er nicht, im Gegenteil. Auf die Frage, ob ihm als Präsident Irrtümer unterlaufen seien, die er bereue, sagte er einmal: Was soll die Frage? Natürlich nicht.

Glaubt er das wirklich?

Möglicherweise. Das wäre die schlechtere Variante. Vielleicht sagt er es aber auch nur, weil er glaubt, dass man einem Schwächling nicht zutrauen würde, Kriege zu gewinnen.

Was hält er für seinen größten Sieg?

Sicher nicht den Tschetschenienkrieg. Ich glaube, am höchsten rechnet er sich an, dass in Russland die Armut besiegt ist. Ich habe oft erlebt, wie stolz er davon spricht, dass die Renten heute dem Existenzminimum angeglichen sind, was sich vor wenigen Jahren niemand hätte vorstellen können.

Gab es bei Ihren Reisen mit Putin ein Erlebnis, das Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist?

Zum ersten Mal in voller Größe erlebt habe ich ihn nach dem Untergang des Atom-U-Boots „Kursk“ im August 2000. Er traf damals im Hafen von Widjajewo die Angehörigen der ertrunkenen Seeleute. Diese Menschen haben Putin gehasst, weil man sie tagelang im Unklaren gelassen hatte. Putin redete lange mit ihnen, und am Ende applaudierten sie ihm. Ich sah, wie einige dieser Menschen, die tagelang kein Auge zugetan hatten, nach dem Treffen mit Putin auf der Stelle einschliefen. Ich bin kein Apologet Putins, aber in diesem Moment hat er sich wirklich bewiesen.

Sie klingen beeindruckt.

Es gab auch andere Momente. Zum Beispiel bei der Zerschlagung des Jukos-Konzerns. Alle ahnten damals, dass der Konkurrent Rosneft die lukrativsten Anteile kaufen würde. Doch dann erhielt eine Firma den Zuschlag, von der niemand je gehört hatte. Bei einer Pressekonferenz fragte ich Putin, wer hinter dieser Firma stehe. Ohne mit der Wimper zu zucken sagte er, es handle sich um eine Gruppe von Privatleuten aus der Energiebranche. Das war nicht die Wahrheit: Tatsächlich stand Rosneft hinter dem Geschäft. Damals begriff ich, dass Putin in der Lage ist, Menschen in die Irre zu führen.

Sie meinen: dass er lügen kann.

Formal hatte er nicht gelogen. Doch im Kern war es die Unwahrheit.

Im Westen wird Putin als humorlos wahrgenommen. Kann er auch lachen?


Oh ja! In letzter Zeit lacht er praktisch über alles.

Weil er über allem steht?

Vielleicht. Vor ein paar Jahren wurde er gefragt, ob er sich für einen lupenreinen Demokraten hält, wie ihn Gerhard Schröder genannt hatte. Er antwortete, er sei nicht nur ein lupenreiner, sondern überhaupt der einzige Demokrat weit und breit, und seit dem Tod Mahatma Gandhis habe er niemanden mehr zum Reden. Er hat zwar dabei gelächelt, aber im Grunde meinte er es ernst. Er glaubt, dass er zu viel weiß. Und je mehr man weiß, desto komischer findet man offenbar die Welt.

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