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Politik: Angeklagt – wegen eigener Meinung

Ankaras Justiz geht derzeit gegen 60 Publizisten vor. Die Prozesse gefährden die EU-Beitrittsverhandlungen

Für Fatih Tas war dieser Freitagvormittag in Istanbul fast schon Routine. Ein Gericht in der türkischen Metropole verhandelte in einem Strafprozess gegen den Verleger, schmetterte ein paar Anträge der Verteidigung ab und vertagte das Verfahren auf Anfang Februar. Das angebliche Vergehen von Tas besteht darin, das Buch eines amerikanischen Autors auf den türkischen Markt gebracht zu haben, in dem die Armee und Staatsgründer Atatürk kritisiert werden. Zehneinhalb Jahre Haft fordert die Staatsanwaltschaft.

Der Tas-Prozess ist nur eines von vielen Verfahren, in denen es wie im anstehenden Prozess gegen den Autor Orhan Pamuk um „Meinungsdelikte“ geht. Unbeirrt von wachsender Kritik der EU ziehen Nationalisten in der türkischen Justiz in diesen Prozessen enge Grenzen für die Meinungsfreiheit. Inzwischen gefährdet die Prozesswelle schon die türkischen EU-Beitrittsgespräche.

Strafwürdig wird das von Tas verlegte Buch „Spoils of War“ des amerikanischen Politikwissenschaftlers John Tirman aus der Sicht der Istanbuler Staatsanwaltschaft dadurch, dass darin Menschenrechtsverletzungen der türkischen Armee im Krieg gegen die Kurdenguerilla PKK thematisiert werden. Auch eine Karte in dem Buch, auf der kurdische Siedlungsgebiete in der Türkei eingezeichnet sind, missfiel der Staatsanwaltschaft. Eine Beleidigung Atatürks liege vor, weil die Ideologie des türkischen Staatsgründers von Tirman als Form des Faschismus kritisiert werde.

Grundlage der Anklage gegen den Verleger ist der Paragraf 301 des neuen türkischen Strafgesetzbuches, der die „Beleidigung des Türkentums“ verbietet. Zusätzlich wird ein Sondergesetz herangezogen, das die Beleidigung Atatürks unter Strafe stellt. Tas argumentiert, dass Tirmans Kritik von der Meinungsfreiheit gedeckt sei, und plädiert auf Freispruch. Die türkische Version von „Spoils of War“ ist vorerst weiter erhältlich.

Tas ist bei weitem nicht das einzige Opfer des „301“. Orhan Pamuk, der am 15. Dezember erstmals vor Gericht erscheinen muss, soll mit umstrittenen Äußerungen über die Armenierfrage das Türkentum beleidigt haben, ein weiterer Verleger durch die Veröffentlichung eines Buches über die türkisch-armenische Aussöhnung. Und drei Monate nach einer umstrittenen Historikerkonferenz zum Vorwurf des Völkermords an Armeniern während des Ersten Weltkriegs wurden fünf Journalisten wegen Verunglimpfung der Justiz angeklagt. Sie hatten im September die Entscheidung eines Verwaltungsgerichts kritisiert, mit der die Konferenz in Istanbul verhindert werden sollte.

Nach einer Zählung der internationalen Schriftstellervereinigung Pen schlagen sich derzeit 60 Autoren, Publizisten und Journalisten mit der türkischen Justiz herum. Die Verfahren enden nicht immer mit einer Verurteilung, doch die Möglichkeit einer Anklage schüchtert Kritiker des türkischen Staates ein. Die Prozesswelle ist Teil eines inneren Machtkampfes in der Türkei: Auf der einen Seite stehen die reformorientierten Teile der türkischen Öffentlichkeit und die politische Führung, denen an einer raschen Annäherung der Türkei an Europa gelegen ist. Auf der anderen Seite sammeln sich nationalistische Kräfte im Staatsapparat, in der Armee und in der Justiz, die in der Verankerung europäischer Demokratie-Normen eine Gefahr für den staatlichen Zusammenhalt der Türkei sehen.

Entschieden ist dieser Machtkampf noch nicht, dennoch könnte er schon bald die türkische EU-Bewerbung aus der Bahn werfen. EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn kritisierte kürzlich, Verletzungen der Meinungsfreiheit in der Türkei seien allmählich „eher die Regel als die Ausnahme“. Wenn Ankara das Problem nicht in den Griff bekomme, könnte die EU die erst im Oktober begonnenen Beitrittsgespräche auf Eis legen, sagte Rehn.

Trotz dieser deutlichen Warnung scheut die türkische Regierung die offene Konfrontation mit den reformfeindlichen Kräften in der Justiz. Zum Teil liegt das daran, dass Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die Militärs als mächtigste Partei im reformskeptischen Lager nicht provozieren will, zum Teil aber auch daran, dass selbst einige Kabinettsmitglieder wie etwa Justizminister Cemil Cicek mit den Nationalisten sympathisieren. So bleibt der Regierung nichts anderes übrig, als auf Zeit zu spielen. Eine Nachbesserung zur Liberalisierung des Paragrafen 301 komme nicht in Frage, sagte der türkische Verhandlungsführer bei den EU-Beitrittsgesprächen, Ali Babacan. Es gebe derzeit lediglich Probleme bei der Auslegung des Gesetzes.

Die türkische Justiz sei eben konservativ, versuchte Außenminister Abdullah Gül die Europäer zu beschwichtigen. „Und die Staatsanwälte sind noch konservativer.“ Trotzdem werde Orhan Pamuk nicht im Gefängnis landen, sagte Gül voraus. Bei einem Prominenten wie dem weltweit gefeierten Schriftsteller Pamuk ist das tatsächlich kaum zu erwarten. Bei weniger bekannten Angeklagten wie dem Verleger Fatih Tas schon eher.

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