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Politik: Angela Merkel im Gespräch: "Bei uns ist manches aus der Balance geraten"

Angela Merkel (46) ist Vorsitzende der CDU und gehört zum Kreis der Unions-Kandidaten für das Kanzleramt. Immer mehr Stimmen in der Partei fordern, sich frühzeitig auf Schröders Gegner bei der Wahl 2002 festzulegen.

Angela Merkel (46) ist Vorsitzende der CDU und gehört zum Kreis der Unions-Kandidaten für das Kanzleramt. Immer mehr Stimmen in der Partei fordern, sich frühzeitig auf Schröders Gegner bei der Wahl 2002 festzulegen.

Schadet Boris Becker der CDU?

Wieso?

Ein besseres Vorbild für einen Konservativen konnte es doch gar nicht geben: leistungsstark, beständig, gebunden.

Wir haben doch alle gedacht, das sei eine Idealbeziehung: Schönheit, Erfolg, Reichtum, Multikulti, Beständigkeit. Das haben wir gemocht bei Boris und Barbara. Deshalb war ganz Deutschland enttäuscht - und bei uns auch jeder, von der Sekretärin bis zur Parteivorsitzenden. Ich habe ja geglaubt, aber da haben mir die Kenner von Anfang an widersprochen, die sind bald wieder zusammen.

All das ist nun dahin...

Ich bin ja nun nicht der Psycho-Interpretateur der Beckerschen Beziehung. Der Konflikt zwischen Bindungssehnsucht und Selbstverwirklichung besteht eben an vielen Stellen des Lebens. Eine Partei wie die CDU wird immer daran arbeiten, Bindungen zu unterstützen. Wir wollen kleine Einheiten, aber keine Ich-Einheiten.

Was also ist heute konservativ: Oskar Lafontaine rät der CDU, sich entweder rechts als Schützerin des Privaten und gewisser Werte zu profilieren oder die Regierung von links anzugreifen und Gerechtigkeit statt Kapitalismus zu fordern.

Richtig ist, dass die CDU sich nach dem Ende des Kalten Krieges in einer neuen Lage befindet, wie übrigens auch die SPD. Lafontaines Alternative kann ich allerdings nicht teilen. Er hat nur insofern recht, als die CDU auf der Basis des christlichen Menschenbildes herausstellt, dass die Menschen eben unterschiedlich sind. Wir wollen die Menschen niemals über einen Kamm scheren. Das gegliederte Schulsystem ist ein Ausdruck dieses Menschenbildes.

Das ist das Konservative an der Union?

Interessanterweise wird derzeit nur über die konservative Wurzel der CDU diskutiert. Die anderen Wurzeln, die liberale und die christlich-soziale, fallen unter den Tisch. Nur als konservativ ist die Union zu schmal beschrieben.

Sie scheuen offenbar das Etikett konservativ?

Nein, ich will mich nur nicht darauf reduzieren lassen. Konservativ heißt ja nicht, sich Änderungen zu versperren, sondern Bewährtes zu erhalten und dort, wo neue Gegebenheiten auftreten, entschlossen zu erneuern. An manchen Stellen haben wir das gut gemacht, an anderen Stellen müssen wir noch Antworten finden.

Alle deutschen Parteien modernisieren sich und verlieren darüber die Fähigkeit, auch einmal nein zu sagen.

Das stimmt nicht. Wir ziehen doch Grenzen - bei der Umwelt, beim Schwangerschaftsabbruch, in der Gentechnik. Ich sage nein und lasse mich dann auch als hinterwäldlerisch beschimpfen, wenn es um die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften mit kindererziehenden Familien und der Ehe geht. Ich sage nein zu Volksentscheiden auf Bundesebene.

Was begründet ein Nein?

Die Prinzipien sind, vom Einzelnen aus zu denken und dem Einzelnen Verantwortung zuzumuten. Der Grundgedanke dahinter ist der Freiheitsbegriff - nicht als Freiheit von, das war eines der Missverständnisse der deutschen Einheit, sondern als Freiheit zu etwas, also die Freiheit, Verantwortung zu übernehmen. Daraus ergibt sich die Solidarität, und deren Ordnungsprinzip ist die Subsidiarität. Das Ordnungsprinzip der Freiheit ist der Wettbewerb - Leistung zu fördern aber auch abzuverlangen.

Guido Westerwelle sagt nichts anderes.

Ja, auch die Sozialdemokraten würden dem in Teilen zustimmen. Im Wettstreit der Parteien geht es um Gewichtung von Freiheit, Wettbewerb und solidarischen Ausgleich.

Wie sieht Ihre Rangliste dieser Werte aus?

Wir haben Defizite in unserer Gesellschaft bei der Aufgabe, dem Einzelnen die Freiheit zu geben, das leisten zu dürfen, was er leisten kann. Start-ups haben Gründungsschwierigkeiten; beim Betriebsverfassungsgesetz wird den Gewerkschaftsvertretern oben zuviel Macht auf Kosten der Betriebsräte vor Ort gegeben. Es gibt noch immer das Politik-Verständnis, gerade bei der SPD, dass der Staat die Bürger zu betreuen hat.

Sie betonen erneut die liberale Seite der Unions-Philosophie.

Das Moment des Wettbewerbs sollte verstärkt werden, etwa in der Bildungspolitik. Es geht um Betonungen, nicht um Rangfolgen. Auch bei der Union ist manches aus der Balance geraten. Familien mit Kindern erhalten zu wenig Unterstützung. Es kann nicht sein, dass mancher statt zu arbeiten, mit Sozialhilfe und Schwarzarbeit ein gutes Leben führt und der, der sich für Kinder entscheidet in die Sozialhilfe gerät. Da haben wir gute Reden gehalten, aber nicht ausreichend gehandelt.

Müsste die CDU nicht der Anwalt jener sein, die ein zivilisatorisches Unbehagen am Wertezerfall verspüren?

Der Zusammenhalt durch Werte ist trotz der großen Umbrüche stärker, als viele sich das eingestehen. Nur wird dies oft durch oberflächliche Aufgeregtheiten verdeckt, und da spielt die Effekthascherei der jetzigen Bundesregierung eine große Rolle. Dies ist äußerst gefährlich, weil Grundlinien völlig aus dem Blick geraten.

Was für eine Effekthascherei?

Schlagworte wie Klasse statt Masse in der Agrarpolitik sind wunderbar. Ich habe Friedrich Merz während der Agrardebatte gesagt, mich kann man vielleicht noch auf halbe Ration setzen, dich nicht.

Hat er gelacht?

Er hat gelacht.

Sie wollen Herrn Merz aushungern?

Das war ein Scherz. Aber es ging mir um das zu simple Schlagwort Frau Künasts. Mit solchen Parolen, das ist das Problem, wird überhaupt nichts gelöst. Wir brauchen ein neues, offeneres und längerfristigeres Denken entlang gemeinsamer Wertkategorien wie dem Glauben an die Familie, so sehr sich die auch ändern mag. Der Ur-Sinn des Menschen, sich zu binden und Beständigkeit zu schaffen, der bleibt. Und den muss die Politik fördern. Nur so werden wir besser leben.

Da haben Sie sich etwas vorgenmommen, was nicht gerade für die Tagespolitik taugt: Wollen Sie damit die Regierung angreifen?

Gerhard Schröder hat die Wahl gewonnen mit seinem Ansatz, nicht alles anders, aber manches besser machen zu wollen. Die CDU tut nicht gut daran, taktisch zu denken und zu sagen, ich kriege meine Truppen besser zusammen, wenn ich zu allem erstmal nein sage. Unsere Wähler empfinden eine Fundamentalopposition jedenfalls als absolut enttäuschend. Sie erwarten Alternativen.

Also trampeln sich alle Parteien in der neuen neoliberalen Mitte gegenseitig auf die Füße.

Ich teile diesen Eindruck nicht. Wir ringen um die Balance zwischen Freiheit und Verantwortung. Die Frage nach dem, was bleibt, und nach dem, was sich ändert, ist angesichts der technologischen Umbrüche so wichtig wie lange nicht mehr. Deshalb ist momentan die konservative Dimension der Union so interessant. Hätten wir eine neoliberale gesellschaftliche Phase, stünde die Frage nach dem solidarischen Ausgleich im Vordergrund. Wir reden deshalb über Verwurzelung und Heimat. Der politische Gegner wird scheitern, wenn er konservativ als veränderungsunfähig beschreibt.

Davor haben Sie Angst?

Das ist der untaugliche Versuch, uns eine Falle zu stellen. Die andere Seite hat einen Mangel an Verwurzelung und versucht nun wenigstens, den Gedanken der Veränderung für sich absolut zu reklamieren und sagt, konservativ zu sein, heißt stehenzubleiben. Das Gegenteil ist richtig.

Sie wollen sowohl liberal als auch konservativ sein: Halten Sie mit dem enormen Tempo der Modernisierung mit oder wollen Sie lieber ein wenig bremsen?

Die Beschleunigung ist ein Element des Lebens. Politik muss diese Beschleunigung besser machen. Die Antwort auf die Globalisierung ist die Stärkung der kleinen Einheiten. Die sehr anonyme, technische Welt braucht ein Gegengewicht in einer sehr individuellen, personenbezogenen Gemeinsamkeit. Deshalb wollen wir zum Beispiel den Kommunen mehr Verantwortung geben, den Wettbewerb zwischen den Ländern stärken, das Ehrenamt fördern. Und damit dem Bürger das geben, was er braucht, um Verwurzelung leben zu können.

Also doch bremsen?

Damit bin ich doch nicht gegen Beschleunigung. Das ist doch, als wäre ich im 17. Jahrhundert gegen den Buchdruck gewesen. Das Internet an sich ist aber kein Wert. Ich muss den Menschen einen Rahmen geben. Ich versuche, auf dem sich beschleunigenden Karusell einen ordentlichen Anschnallriemen zu liefern, damit man sich sicher fühlt.

Sie sind der Anschnallriemen?

Ich eigne mich als Riemen schlecht. Ich bin eher eine Art Scharnier, mit dem man ihn schließt. Ich verneine nicht, dass das Karusell sich schneller dreht. Das hat seine guten Seiten: Man sieht mehr. Aber ich muss den Menschen auch das Gefühl der Geborgenheit geben, weil die Mitfahrer sonst außer Angst gar nichts haben. Die Neoliberalen sagen, die Politik habe keinen Gestaltungsanspruch mehr, weil sich das Karusell ohnehin nicht aufhalten lasse. Das teile ich nicht. Wir dürfen uns nicht getrieben fühlen, wir müssen Veränderung gestalten.

Sie haben eben noch gesagt: Konservativ zu sein heißt, an Bewährtem festzuhalten. Wie deuten sie die Rufe nach Wolfgang Schäuble zurük an die Spitze der Union?

Wolfgang Schäuble ist ein hervorragender Politiker. Ich schätze ihn sehr und habe viel von ihm gelernt. Er arbeitet für die CDU an einem Entwurf für einen europäischen Verfassungsvertrag. Dies ist angesichts der Aufgaben, die auf die Europäische Union in den nächsten Jahren zukommen, von aller größter Bedeutung und hat viel damit zu tun, dass Europa ein Europa der Bürger wird.

Eine Kernfrage für jeden Konservativen: Ist die Entschlüsselung des Genomes eher eine Gefahr oder eine Chance?

Wie bei allen revolutionären Erkenntnissen ist es beides zugleich. Es kommt darauf an, mit dem Wissen um die Funktionsfähigkeit der Gene so umzugehen, dass die Würde des Menschen gewahrt bleibt. Dafür werden wir immer wieder schwierige Güterabwägungen zu treffen haben, um auf der einen Seite Krankheiten zu heilen und auf der anderen Seite keine Selektion von Menschen zuzulassen. Ich bin optimistisch, dass wir lernen, mit diesen Herausforderungen umzugehen.

Schadet Boris Becker der CDU?

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