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Unschuldsmiene. Die CDU wirbt mit ihrer Kanzlerin. Als Jugendliche, die auch mal campen war.

© dpa

Angela Merkel im Wahlkampf: Das Private verdrängt das Politische

Angela Merkel plaudert bei Wahlkampfauftritten übers Kochen und Männer. Auch in der SPD setzen sie auf Persönliches. Wie das Private das Politische verdrängt.

Von Robert Birnbaum

Nun hat es also auch der Horst getan. Gerade wird Angela Merkel in Jugendjahren millionenfach unters Volk gebracht, hat der Bürger Peer Steinbrück von der eigenen Frau zu Tränen gerührt sehen und traurige Familienschicksale von Sigmar Gabriel und Ursula von der Leyen lesen können – da mochte der Bayer nicht nachstehen. Am Gartentisch daheim im Grünen sitzend, präsentiert sich Horst Seehofer, wie er sich von der Gattin ein Paar Weißwürste kredenzen lässt. Dass das Private politisch sei, war vor Jahrzehnten die Kampfparole der Frauenbewegung. Die Politik hat diesen Satz längst für ihre Zwecke umgedeutet. Aber selten hat sie das so geballt und gezielt getan wie in diesem Wahlkampfjahr. Das Private ist auf dem Wege, das Politische zu ersetzen.

An einem Nachmittag im Juli steht Angela Merkel auf der Hafenmole von Neuharlingersiel. Die Bädertour zu Ferienbeginn ist fester Programmpunkt im Wahlkampf der CDU-Vorsitzenden. Der alte Krabbenfischer-Hafen ist ein beliebtes Ausflugsziel an der ostfriesischen Nordseeküste, die ansonsten eher sparsame Reize wie Deich, Watt und Windrad bietet. Und jetzt also die Frau, die von einem flatternden Banner am Badestrand kumpelig mit „Moin Angela“ begrüßt wird.

Und von Jan Stecker. Der verdient sein Geld sonst als Sportmoderator beim Fernsehen. Wenn Merkel in den Wahlkampf zieht, bestreitet der gebräunte Sonnyboy das Vorprogramm, sagt den Einheimischen, dass „die Kanzlerin sich immer die Orte in Deutschland aussucht, die sie selber mag“, und simuliert zuletzt eine Talkshow. „Geh’n wir mal ’n bisschen weg von der Politik ins Private hinein“, sagt Stecker dann. Und Merkel geht mit.

Jan Stecker ist für sie Gold wert. Dass die CDU-Chefin über den Euro redet, über demografische und ökonomische Herausforderungen oder auch über Mindestlöhne, all das hören die Leute geduldig an. Aber dass Merkel gerne selber kocht, und dass sie dabei ja nun nicht dauernd denke „Kanzlerin rührt im Kochtopf“ – den Satz merken sie sich. „Die ist ja wirklich normal geblieben!“, strahlt hinterher eine Geschäftsfrau. Sie betrachtet Politik sonst eher distanziert. Aber Merkel am Kochtopf ...

Der Trick funktioniert also.

Jeder Schnipsel Privates ist fette Beute

Bis vor kurzem galt die Frau im Kanzleramt in Privatsachen als wenig auskunftsfreudig, ja spröde. Die Sparsamkeit war nicht direkt Strategie, sondern eine Mischung aus Vorsicht und Wesensart; aber sie zahlt sich jetzt aus. Man glaubt wenig zu wissen über diese Frau. Und so kann sie seit Monaten immer wieder kleine Einblicke ins Persönliche in Szene setzen.

Im Frühsommer bietet die Frauenzeitschrift „Brigitte“ ihr eine Theaterbühne in Berlin. Frauensalon, Frage an die Kanzlerin: Was sie an Männern besonders möge? „Schöne Augen“, gibt Merkel zurück. Pause. Ob sie das eventuell etwas erläutern ... ? „Das war doch jetzt schon viel.“ So viel Sprödigkeit muss bleiben. Für den Trick ist das besser: Jeder Schnipsel aus dem Privatleben bekommt den Anschein der seltenen Jagdbeute.

Anfang des Jahres steht es schlecht um die SPD

Unschuldsmiene. Die CDU wirbt mit ihrer Kanzlerin. Als Jugendliche, die auch mal campen war.
Unschuldsmiene. Die CDU wirbt mit ihrer Kanzlerin. Als Jugendliche, die auch mal campen war.

© dpa

Das waren solche Schnipsel übrigens wirklich mal, und zwar ganz generell. Zu den Zeiten des ewigen Kanzlers kannte das Volk vom Privatmann Helmut Kohl wenig mehr als seine angebliche Leibspeise Pfälzer Saumagen (in Wahrheit waren es Spaghetti alla Carbonara) und seine Vorliebe für St. Gilgen am Wolfgangsee. Da machte Kohl jedes Jahr Urlaub. Jedes Jahr gab es dazu ein rituelles Foto mit Frau Hannelore, wie sie auf der Alm ein Rehlein streichelte oder sonst ein putziges Getier.

Die politischen Korrespondenten am Rhein wussten ein wenig mehr – oder taten zumindest so –, aber sie schrieben es nicht auf. Man verstand sich auf beiden Seiten als Teil des Politischen, nicht der Unterhaltungsbranche. Als im „Spiegel“ ein Porträt über Kohls Bürochefin Juliane Weber unter dem anzüglichen Titel „Die Marketenderin“ erschien, war das ein Tabubruch.

Trotzdem gilt bis heute die Regel fort, dass das Persönliche nicht politisch ist, so lange es der Betroffene nicht selber will. Guido Westerwelle konnte sein Outing selbst bestimmen. Krankheiten, Familiendramen, Liebeleien bleiben in der Regel vertraulich. Nur ganz selten wagen es Parteifreunde, Privates für gezielte Schmutzeleien zu missbrauchen.

Aber der Konsens hat Risse. Über die Ursachen kann man Doktorarbeiten schreiben. Das Vorbild Amerika müsste darin vorkommen, wo das Private im Kampf um Aufmerksamkeit und Sympathie spätestens seit den Kennedys seinen Platz hat. Die Pioniertat eines Gerhard Schröder müsste erwähnt werden, der seine Scheidung als kulinarischen Notwehrakt eines Mannes inszenierte, der endlich mal in Ruhe sein Schnitzel essen will. Die „First Couples“ zu Guttenberg und Wulff wären zu untersuchen und ihr Geschäft auf Gegenseitigkeit mit dem Boulevard, natürlich die Talkshow und die „Homestory“ in bunten Magazinen mit gestellten Bildern privaten Glücks, neuerdings der allgemeine Exhibitionismus via Twitter, Facebook, Internet.

Das Private wird zur Botschaft

Aber wahrscheinlich sind auch diese Formen schon so gut wie Geschichte. In ihnen ist das Private bloß Beiwerk, ein Schlüsselloch-Blick auf die „menschliche Seite“, weicher Hintergrund für harte politische Botschaften. Doch wir erleben gerade die nächste Stufe: Das Private wird selbst zur Botschaft.

Anfang Januar steht es schlecht um die Sozialdemokratie. Peer Steinbrück ist überstürzt zum Kanzlerkandidaten ausgerufen worden, er stolpert durch ein Trümmerfeld aus Vortragshonorarabrechnungen und Pinot-Grigio-Pfützen. Wenn die SPD die Landtagswahl in Niedersachsen verliert – und danach sieht es damals aus –, kann er nur noch hinwerfen. Dann muss ein anderer übernehmen. Zum Beispiel der SPD-Vorsitzende.

Da erscheint in der „Zeit“ eine traurige Geschichte über den Vorsitzenden. Sigmar Gabriel hat eine schlimme Kindheit gehabt und einen Vater, der bis zum Tod ein verbohrter Nazi war. Lange hat das niemand gewusst, jetzt hat er es erzählt. Wer die Geschichte liest, kann gar nicht anders als Mitgefühl haben und Verständnis für diesen Mann, der öffentlich ja eher als Bruder Leichtfuß wahrgenommen wird, gewieft, aber kaum kanzlerabel. Nun bekommt er Tiefgang. So ernst und tragisch ist diese Lebensgeschichte, dass sich der Gedanke fast verbietet, ihr Erscheinungstermin sei kein Zufall. Aber sie passen halt so gut zusammen, der Termin und die Botschaft.

Vielleicht geht der Verdacht zu weit. Vielleicht hat auch Ursula von der Leyen vor kurzem in einem Magazin einfach so über das Zusammenleben mit ihrem Vater erzählt, der sie kaum mehr erkennt. Ernst Albrecht, einst Ministerpräsident in Niedersachsen und ernsthafter Konkurrent Helmut Kohls, ist seit Jahren an Alzheimer erkrankt. Möglich, dass die Tochter das einfach mal loswerden musste; vorstellbar, dass die gelernte Ärztin dabei auch weniger prominenten Schicksalsgenossen Mut machen wollte. Man weiß das nicht. Man weiß aber, dass die CDU-Politikerin von der Leyen ihr Privatleben bisher noch sorgsamer abschottete als die Kanzlerin. Man weiß, dass auch sie noch etwas werden will. Und ob Absicht oder nicht – in der SPD wie in der CDU gab es jeweils genügend Leute, die es dafür gehalten haben.

Mancher entdeckt den Vorzug des Privaten als sanfte Waffe erst im Nachhinein. Peer Steinbrück ist so einer. Dass er seit 1975 verheiratet ist, hat man gerade noch gewusst. Doch Gertrud Steinbrück war selbst in Düsseldorf als Landesmutter an der Seite des Ministerpräsidenten kaum zu sehen. Beide wollten das nicht. Und Steinbrück war entschlossen, es als Kanzlerkandidat genauso zu halten.

Ein radikales Experiment: Was bleibt vom Politischen?

Unschuldsmiene. Die CDU wirbt mit ihrer Kanzlerin. Als Jugendliche, die auch mal campen war.
Unschuldsmiene. Die CDU wirbt mit ihrer Kanzlerin. Als Jugendliche, die auch mal campen war.

© dpa

Dann kam der Niedergang, die Verzweiflung und der Gedanke ans Aufgeben. Da hat er sie doch mitgenommen, erst zum SPD-Parteitag nach Hannover, dann zum Parteikongress nach Berlin. Und dort hat sie ihn vor aller Augen vom Polit-Matador zum Menschen werden lassen. Was er sich alles zumute, hat die 63-jährige pensionierte Lehrerin erzählt, und ob wirklich jemand glaube, so etwas tue sich einer an, der nicht ernsthaft etwas verändern wolle in der Welt?

Steinbrück hat sich an die Stuhllehne geklammert und mit Mühe die Tränen unterdrückt. Er hat es nicht so gewollt. Aber in dem Moment ist das Private ganz und gar politisch geworden. Inzwischen holt er die Lektion im Schnelldurchgang nach: Vier Seiten Doppelinterview im aktuellen „Stern“ mit Gertrud und Peer über Legosteine, Schiffsmodelle, und man erfährt außerdem etwas über Liebe („... dass der andere einen nicht verletzen will“) sowie darüber, wie der Peer seine Zukünftige zu Hause besucht hat, wie sie ihm mit blutiger Schürze die Tür aufmachte und dahinter ihre Mutter mit einem Messer in der Hand – zwei Hähne hatten ihr Leben lassen müssen: „Da habe ich gedacht: Mann, da musst du aber aufpassen!“

Das ist munter zu lesen. Aber die Innovation geht auf das Konto seiner Konkurrentin. Niemand spielt die Schnitzeljagd mit dem Menschelnden seit Monaten so konsequent beiläufig wie Merkel. Hier ein Kinobesuch mit Plausch über „Die Legende von Paul und Paula“, da ein Interview in einem Jugendmagazin über die frühen Jahre („Ich habe zu viel Kirschwein getrunken“), dort ein Auftritt als „Vertretungslehrerin“ für Geschichte in einem Berliner Gymnasium. Seit kurzem weiß das Publikum auch, dass der so hartnäckig unsichtbare Professor an ihrer Seite sich über ihre Backkünste beschwert: Dem Konditorensohn Joachim Sauer fehle es an Streuseln.

Ohne Merkel kann die CDU nicht gewinnen

Nicht geklärt ist, warum die Hausfrau Merkel mit Butter und Zucker geizt und ob es da eventuell einen Zusammenhang mit der Sanierung des Bundeshaushalts gibt. Aber dass noch Fragen offen bleiben, zu denen es überraschende Antworten geben könnte – dieser Rest an Geheimnis gehört genau so zum Trick wie die Unschuldsmiene, wenn jemand sie auf diese ganze Masche anspricht.

Überraschend ist an der Strategie ansonsten nichts. Die CDU ohne Angela Merkel könnte die Wahl nicht gewinnen, Angela Merkel ohne die CDU schon. Vertrauen in Personen ist zur harten politischen Währung geworden in Zeiten immer weicherer Parteiprogramme. Kein Zufall übrigens, dass man von Jürgen Trittins Privatleben nichts erfährt. Die Grünen sind noch programmscharf genug.

Zur Unterscheidung von anderen brauchen die Grünen das Private nicht. Die SPD entdeckt es in der Not. Die CDU ist schon lange so weit. Eine Million Mal hat sie ein Heftchen drucken lassen, das auf elf Seiten die „Kanzlerin für Deutschland“ zeigt – als Mensch unter Menschen, nicht als Regierungschefin unter den Mächtigen der Welt. Und auf ebenso vielen Seiten als das lockige Töchterchen, die schelmisch-verliebt dreinblickende Ehefrau, die Naturliebhaberin in Seenlandschaft.

Es finden sich in dem Faltprospekt auch Spuren eines denkbaren Regierungsprogramms. Aber das ist mehr der Tradition geschuldet. In Wahrheit hat Angela Merkel wieder mal ein Experiment angeordnet: Ob es gelingt, die Politik ganz hinter dem Persönlichen verschwinden zu lassen?

Es ist ein radikales Experiment. Niemand kann sagen, was danach vom Politischen überhaupt noch übrig bleibt.

Nur eins steht vorläufig fest: Der Horst mit Gattin, Wurst und Weißbier, der dann aber doch über Politik redet – der wirkt bereits altmodisch.

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