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Angela Merkel: Mit Händen zu greifen

Kanzlerin aller Deutschen wollte sie sein - mit einer Politik, die über die CDU hinausreicht. So weit, dass ihre Partei heute den Verlust an Prinzipien beklagt - auch bei Angela Merkel.

Es sind diese Momente, in denen Politiker glauben, sie seien doch jetzt wirklich ein Mal, dieses eine Mal unbeobachtet. Dann zupfen sie an ihren Nasen, bohren in Ohren, schauen versonnen ihre Brillen an und ungefähren Blickes in die Gegend. Wie oft ist das im Bundestag zu beobachten, diesem Forum der Öffentlichkeit, das zugleich so oft unter Ausschluss derselben tagt, schlicht weil niemand sich interessiert.

Besonders in jüngster Zeit, da die Krise unablässig tobt und alle Kraft erfordert. Dann spannen manche auf der Regierungsbank ab, weil der Druck zu groß wird, oder sie wirken dermaßen in sich versperrt, dass der Eindruck entsteht, sie seien zu keiner Bewegung mehr fähig.

Bei Angela Merkel ist beides möglich, die Anspannung und die plötzliche Entspannung, im Körper wie im Gesicht, in raschem Tempo aufeinander folgend, so wechselhaft wie die Stimmung im Land. Da lächelt sie auf ihrem Platz ganz vorne, die Mundwinkel weisen nach oben, dass sie einnehmend wirkt wie ein junges Mädchen, das seine Schüchternheit verliert. Sie neigt ihren Kopf zur Rechten, wo ihr Stellvertreter sitzt, der von der SPD, Frank-Walter Steinmeier. Er ist auch ihr Gegenkandidat für die kommende Wahl, und wie sie sich ihm so zuneigt, verschattet sich ihr Gesicht in Sekundenschnelle, so schnell, dass das der Ausdruck der Wahrheit sein muss. Die Mundwinkel fahren gleichzeitig herunter, scharfe Falten bilden sich entlang des Kinns, und sie sieht angespannt aus, fast verkniffen. So anstrengend also kann Koalition sein. Er schaut an ihr vorbei, sie zieht ihre Schulter hoch und höher, bis der Hals kürzer und geschützt wirkt. Ihre Finger aneinandergelegt hört sie zu, an den Spitzen spielend. Samy Molcho, der große Pantomime, der Experte der Körpersprache, hätte seine Freude daran.

Vorbei die Zeiten, in denen Angela Merkel, ohne es darauf anzulegen, aber wohl wissend, was sie tut, damit kokettierte, dass eine Frau Bundeskanzler ist. Und die Bundeskanzlerin eine Frau, die es zeigt. Wer denkt noch an die Bilder mit dem norwegischen Premier Jens Stoltenberg, der neben ihr in der Oper saß, Oper, die sie liebt als Ausdruck von Entspannung, und nicht wagte, auf ihr Dekollete zu schauen. Damals kam sie langsam auf dem Höhepunkt ihrer Beliebtheit an, im Zenit, und als Naturwissenschaftlerin wusste sie aber auch, was dem Zenit in aller Regel folgt: ein Abstieg. Sie, die pragmatisch und nüchtern und unaufgeregt Situationen beschreiben kann, sagte es auch. Leise, wie es ihre Art ist, nicht oft, weil sie denkt, dass es sich doch jedem, der die Lage betrachtet, erschließen muss. Logisch, nicht?

Aber das war vor der Zeitenwende, vor dem Epochenbruch, dem nächsten großen, 20 Jahre nach dem Mauerfall. Beim ersten kam sie aus der Sauna, beim zweiten sitzt sie mittendrin in der Hitze der Ereignisse, als Kanzlerin der Deutschen, die inzwischen Orientierungsmacht in Europa sind, dazu gemacht auch von ihr auf vielen Gipfeln seit Amtsübernahme 2005. Wie hat sie doch die Herren der Welt mit ihrer Taktik der verhüllten Interessenpolitik alt aussehen lassen. Einen Leader nannte George Bush sie, und der Präsident mit der texanischen Lebenssicht meinte es nicht spaßig, sondern bewundernd. Zur Eisernen Lady schien ihr nur die große Handtasche zu fehlen. Ja, damals war sie der Liebling des aufgeklärten Europas und der Deutschen, weil sie in ihr die Verbindung von Effizienz und Kompetenz mit der Begabung zur Selbstkontrolle zu entdecken glaubten.

Und heute? Nichts ist schlimmer als eine enttäuschte Liebe, weiß der Volksmund, und das Volk muss sie wählen, ihre Partei und damit die Vorsitzende, Angela Merkel. Ihre Hoffnung, Kanzlerin aller Deutschen zu werden mit einer Politik, die über die Partei hinausreicht, die sich Elemente der SPD, der Grünen und manche Liberalität aneignet, erscheint, als wisse sie nicht, wo sie die Mitte finden kann, ihre Mitte. Nur wirbt die CDU unglücklicherweise gerade jetzt mit dem Slogan „Die Mitte.“, wobei Mitte tatsächlich mit einem abschließenden Punkt geschrieben wird, auf dass es wie ein Signal wirkt, wie ein „punktum“. Doch ist jetzt alles im Fluss in der CDU, sie muss sich mit Sachen quälen wie Enteignungen und Verstaatlichungen, teuflischen Wörtern fürs Gemüt einer christlichen Partei, und dazu mit einer Politik, die mehr sozialdemokratisch geprägt ist, als sie unter Merkels Vorgänger Gerhard Schröder je war. Heute, im Spiegel der Macht und der Ereignisse, verwischt sich ihre vormalige Dominanz, die Konturen werden unscharf, es entsteht das Bild der Beliebigkeit.

Das ist es, was neben der großen Krise in der Welt zur großen Krise in der Unionswelt führt, sodass sich die Gefahren für Merkel potenzieren. „Ach hört doch auf, immer zu fragen: Bist du für Merkel oder gegen sie!“ Ein Stoßseufzer des Vizefraktionschefs Wolfgang Bosbach, der auch das besagt: Es geht nicht mehr nur um Merkel, es geht um etwas, das größer ist als sie. Es geht um die CDU, die sich zu ängstigen beginnt, dass es zu lähmendem Entsetzen an Haupt und Gliedern kommt, weil sie in Umfragen auf SPD-Niveau zu fallen beginnt; ein Niveau, das die nach schweren innerparteilichen Kämpfen erreichte. In der CDU dagegen bemühen sie sich um Grabesstille, doch dass es nicht gelingt, sie zu erwirken, zeigt, wie Autorität verfällt. Junge CSU-Politiker, die Merkels Machtbewusstsein vornehmlich aus Erzählungen kennen, die ihre politische Garotte nicht fürchten, machen sie unverhüllt verantwortlich, bestreiten ihr Schneid und Kraft zur Führung wie vormals das Alphatier der Republik, Gerhard Schröder. Kann sie es doch nicht? Sie denkt: doch.

Merkel denkt, dass es reichen muss, wenn man ihre Gedanken nachvollzieht. Sie setzt auf Gutwilligkeit, Offenheit, breiten Diskurs – wo sie gerade zunehmend fürs Gegenteil bekannt wird. Schon ein Angebot, in ihrem Sinn Entscheidungsprozesse zu organisieren, sieht sie in diesen Wochen als potenziell gefährlich an. Sie traut mit feinen Abstufungen nur einem kleinen Zirkel – und allen anderen alles zu. Merkel traut vor allem ihrem Mann, Beate Baumann und Eva Christiansen. Auch Thomas de Maizière, Ulrich Wilhelm, Friede Springer und Charlotte Knobloch. Volker Kauder, dem Fraktionschef der Union, muss sie sich von Amts wegen anvertrauen. Der Kreis ist klein, auf den der Druck immer größer wird. Und die CDU beginnt, ihm nachzugeben, sie geht ganz allmählich in die Knie. Merkel kann sie nicht recht stützen, weil die Partei auch nicht mehr auf alle ihre inhaltlichen Stützen bauen kann. Jüngstes Beispiel ist der Streit um Jobcenter, der zwei Ministerpräsidenten der CDU gegen Merkel vereint, die unterschiedlicher kaum sein könnten, Jürgen Rüttgers und Roland Koch. Und die zusammen mit einem dritten, Günther Oettinger, auf Parteitagen unbezwingbar sind. Merkels Nimbus ist jedenfalls dahin, die drei so geschwächt zu haben, dass es zu einer Kooperation zu ihren Lasten nicht mehr kommen kann.

Doch heraus aus der Welt der Union in die andere, wo die Krise die Welt aus den Angeln zu heben droht. Da sind drei andere, die Merkel gefährlich werden können, Nicolas Sarkozy, Gordon Brown und Barack Obama, der neue US-Präsident. Ein globaler Kampf hat begonnen. Obama sieht das Problem als ganz groß an, als größer als Merkel. Sein Druck wird darum noch größer werden, ein weiteres Konjunkturprogramm zuzulassen. Sie will nicht, aber wird sie nicht müssen? Ihr politisches Koordinatensystem, ihre Bereitschaft wie Fähigkeit zu Konsens und kontrolliertem Konflikt werden jetzt auf höchster Ebene geprüft, zusätzlich zu dem, was die CDU von ihr erwartet. Werden sich Amerika und Europa, mit gelenkt von Merkel, in der Finanzkrise überwerfen? Kann sich das irgendwer leisten? Merkel? Die CDU? Die Welt? Prinzipienfragen werden gestellt, und ihre Kanzlerschaft kommt ans Ende aller Prinzipienfreiheit.

Da sitzen sie also auf der Regierungsbank. Sie ordnen Papiere, schreiben mit grünen Stiften in ihre Akten, halten sich an der Ordnung fest, an dem, was irgendwie immer so war, einerlei zu welcher Zeit. Man müsste mal mitstenographieren, was die Leute so reden, schrieb Kurt Tucholsky. Im Parlament werden die Reden stenographiert, und man müsste mal die von Angela Merkel aus ihren Oppositionsführerzeiten zu lesen geben. Wer sie heute sieht, die Reden und die Kanzlerin, weiß: Die Haltung hat sich verändert.

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