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© dpa-Zentralbild

Angela Merkel: Szenen einer Wiedervereinigung

Angela Merkel versucht fünf Wochen vor der Wahl, die Vertriebenen und ihre Präsidentin wieder für sich zu gewinnen.

Von Robert Birnbaum

Berlin - Das „Ännchen von Tharau“, sagt die Kanzlerin, das sei ja eins von ihren Lieblingsliedern. Man hat das von Angela Merkel bisher auch noch nicht gewusst. Vor allem aber trägt es ihr anerkennendes Raunen im Saale ein. Das „Ännchen von Tharau“, eine ostpreußische Schnulze aus dem 17. Jahrhundert, ist nämlich so etwas wie die inoffizielle Hymne der Heimatvertriebenen. Die thüringischen Chöre des Bundes der Vertriebenen (BdV) als musikalisches Begleitprogramm beim „Tag der Heimat“ haben das Lied vorgetragen. Jetzt warten die über tausend Teilnehmer im Berliner ICC auf die Rede der Kanzlerin. Und sie bekommen geboten, was zu erwarten war: Szenen einer Wiedervereinigung.

Die war, beide Seite wussten es, dringend noch mal fällig, obwohl der ernste Krach zwischen der CDU-Vorsitzenden und den Vertriebenen schon ein halbes Jahr zurückliegt. Aber der Anlass besteht ja fort. Nach wie vor lässt der BdV einen seiner Sitze im Beirat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ unbesetzt. Nach wie vor besteht BdV-Chefin Erika Steinbach darauf, dass dieser Sitz ihr zusteht. „Es geht in dieser Frage nicht um mich“, betont die CDU-Politikerin am Samstag im ICC. „Es geht um die Freiheitsrechte dieses Staates.“ Wo man denn hinkäme, wenn sich Verbände von außen vorschreiben ließen, wen sie auf einen ihnen zustehenden Posten entsenden! „Das lassen wir uns nicht nehmen“, ruft Steinbach in den langen Applaus hinein, „von niemandem, weder im Inland noch im Ausland!“

Im Inland, das waren zu Jahresanfang die sozialdemokratischen Koalitionspartner, im Ausland die Hardliner in Polen, die die Verbandspräsidentin nicht in dem geschichtspolitisch heiklen Gremium vertreten sehen wollten. Und Merkel hatte sich nicht für Steinbach stark gemacht. Dahinter steckte neben der allgemeinen Merkelschen Unlust an unbequemen Festlegungen der Versuch, einen veritablen deutsch-polnischen Krach zu vermeiden. Der hätte den im Kanzleramt als Pragmatiker geschätzten Ministerpräsidenten Donald Tusk geradezu gezwungen, selbst den Hardliner herauszukehren, womöglich mit der Folge, dass das ganze Projekt einer Gedenkstätte gegen Flucht und Vertreibung geplatzt wäre. Steinbach hat versichert, dass sie diese Zwangslage sehe, und selbst den Ausweg des „leeren Stuhls“ gewiesen. Viele Vertriebene sahen das anders. Sie fühlten sich verlassen, ja verraten.

Merkel hat hinterher versichert, dass der BdV das Recht habe, den leeren Stuhl nach eigenem Willen zu besetzen; aber zu dem Zeitpunkt war dies Bekenntnis schon folgenlos. Es ist also noch einiges offen zwischen der Kanzlerin und den Vertriebenen. Dass Merkel nächste Woche nach Polen reist, ausgerechnet zum 70. Jahrestag des deutschen Überfalls, macht den Besuch im ICC doppelt heikel. Ungewöhnlich ist er auch so. Merkel war zuletzt als Kanzlerkandidatin 2005 bei einem „Tag der Heimat“. Der erste Kanzler, der überhaupt je bei diesem Vertriebenentreff aufgetreten war, war im Jahr 2000 – ausgerechnet – der SPD-Mann Gerhard Schröder. Helmut Kohl hielt auf Distanz. Er musste ja auch noch den erbitterten Streit in der eigenen Unionsfraktion um die Anerkennung der Oder-Neisse-Grenze ausfechten, ohne die die deutsche Einheit nicht zu haben war.

Für die politische Enkelin Merkel sind das Kapitel aus dem Geschichtsbuch, fast so fern wie die Vertreibung selbst. Die Weiß- und Grauköpfe in den Stuhlreihen hinter ihr sind ja die letzten, die die Schrecken der letzten Kriegstage und der ersten Nachkriegsjahre erlebt haben. Ein kurzer Ausschnitt aus einem neuen Dokumentarfilm ruft die Erinnerungen wach: Elendstrecks auf dem brüchigen Eis des Kurischen Haffs, die Reste einer Kolonne, die ein Panzer in den Schnee gewalzt hat, und die alte Frau, die in entsetzlicher Sachlichkeit in die Kamera hinein berichtet, wie der Soldat sie selbst vergewaltigt hat und ihre Kinder erschossen, den Säugling im Wagen zuletzt.

Merkel bewältigt den Spagat zwischen Leiden und Politik, erlittener Geschichte und ihrer Instrumentalisierung für durchaus heutige Zwecke auf ihre Weise. „Wir können Leid nicht ungeschehen machen“, sagt sie, aber: „Die Wahrheit lässt sich auf Dauer nicht leugnen.“ Zur Wahrheit und Wahrhaftigkeit des Erinnerns gehöre indes auch, dass die Vertreibung „unmittelbare Folge deutscher Verbrechen“ war: „Es gibt kein Umdeuten der Geschichte.“ Das sind die Passagen in ihrer Rede, die vor allem den polnischen Journalisten oben auf der Galerie zugedacht sind.

Auf das Publikum im Saal sind andere Sätze gezielt: Zum Beispiel, dass die Vertriebenen mit ihrer Charta von Stuttgart schon 1950 auf Rache und Revanche verzichtet hatten und so „Botschafter der Versöhnung“ geworden seien, „Botschaftern der Verständigung in Europa“. Auf den Streit um die Stiftung geht sie nur kurz ein: eine „lange, kontroverse, manchmal unsägliche Diskussion“ – aber das Ziel, die Stiftung selbst verwirklicht. In der nächsten Legislaturperiode, verspricht die Kanzlerin, werde sie „hart arbeiten“ daran, das Konzept umzusetzen.

Am Ende freundlicher Applaus, von Steinbach eine Umarmung und Wangenküsse für die „liebe, verehrte Frau Bundeskanzlerin“. Otto Schily nickt Merkel knapp zu. Den früheren Bundesinnenminister hat sich Steinbach für dieses Jahr als Träger des Preises ihres Verbands ausgesucht. Schily, sagt die Vertriebenenpräsidentin in ihrer Laudatio, habe mit einem Auftritt vor dem BdV vor zehn Jahren die „ideologische Mauer“ zwischen den Vertriebenen und der Linken in Deutschland durchbrochen. Dass es zugleich ein höchst raffinierter Schachzug ist, ausgerechnet einen SPD-Spitzenpolitiker ausgerechnet auf der Veranstaltung auszuzeichnen, auf der Merkel spricht, weil nämlich die SPD sich nicht empören und von Wahlkampfauftritt und Schlimmerem sprechen kann, das sagt Steinbach natürlich nicht. Schily hat es aber verstanden: „Gegen Kritik kann man sich wehren“, merkt er an, „gegen Lob nicht.“

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