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Zeichen der Zeit: Wie entscheidet sich die Bundeskanzlerin?

© dpa

Angela Merkel und das Kanzleramt: Tritt sie noch mal an?

Heute Abend erklärt sich die Kanzlerin zu ihrer politischen Zukunft. Wie wahrscheinlich ist eine erneute Kandidatur Angela Merkels?

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Sie tritt an, weil …

… sie ihren Job – zum Beispiel in der Flüchtlingskrise und der europäischen Einigung – noch nicht zu Ende gebracht hat.

Angela Merkel selbst war es, die im September 2015 Deutschlands Grenzen aufmachte und hunderttausende Flüchtlinge ins Land ließ. Sie gilt auch als die oberste Zuchtmeisterin in der Euro-Krise und hat harte Sparauflagen für die Defizitsünder in der Europäischen Union durchgesetzt. Zu allem Überfluss kam noch der Brexit, polnische und ungarische Regierungen mit ganz eigenen Vorstellungen über die europäische Zusammenarbeit und jetzt Donald Trump und sein Zweifeln an der Zukunftsfähigkeit der Nato. Merkel kann gar nicht nicht kandidieren. Sie muss die Probleme selbst anpacken.

… alle in der Union das erwarten.

Ihr Parteifreund und ehemaliger Intimus Norbert Röttgen war vorerst der letzte Parteipromi, der Merkels Kandidatur verkündete: „She will run for chancellor“, sagte er in dieser Woche dem Sender CNN. Die Lobpreisungen anderer CDU-Politiker – inzwischen sogar aus der CSU – sind nicht mehr zu zählen. Mögliche Konkurrenten um das Amt habe sie – so heißt es bereits seit Jahren – alle schon „weggebissen“. Ein Verräter ist nicht in Sicht. Also bleibt nur Merkel selbst.

… im Rest der Welt alle davon ausgehen und es wollen.

US-Präsident Barack Obama steht an der Spitze des weltweiten Angela-Merkel-Fanclubs. Er würde sie sogar wählen, wenn er Deutscher wäre, charmierte er die Kanzlerin. Will Merkel diesem Mann einen Korb geben? Und Spaniens Regierungschef Mariano Rajoy sagte am Freitag auf die Rolle Merkels als „Fels in der Brandung“ angesprochen: „Ich weiß nicht, ob ich Deutschland als Felsen bezeichnen möchte – aber die Stabilität ist wirklich sehr wichtig für ganz Europa. Deswegen ist es für mich ganz wichtig, dass die Dinge in Deutschland gut laufen, und das ist Gott sei Dank zurzeit auch so.“

… CDU und CSU gar keinen anderen Kandidaten haben.

Jetzt mal im Ernst: Es gibt keine geborenen Merkel-Nachfolger in der CDU. Also nicht jetzt. Thomas de Maizière war mal einer, doch diverse Krisen in seiner Zeit als Verteidigungsminister und auch als Innenminister haben ihn den Titel gekostet. Ursula von der Leyen? Sie taucht gerade in der Zeit nach der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten wieder häufiger auf – als Mahnerin. In den Monaten davor war es recht ruhig um sie geworden. Armin Laschet? Der muss erst mal sehen, dass er in Nordrhein-Westfalen nicht politisch baden geht bei der kommenden Landtagswahl. Auch die saarländische Regierungschefin Annegret Kramp-Karrenbauer wird von einigen genannt. Man möchte fragen: Annegret wer? Und was ist mit der CSU? Auch nicht viel mehr. Die Christsozialen sind zu sehr damit beschäftigt, geeignete Nachfolger ihres großen Vorsitzenden Horst Seehofer zu finden.

… sie Chancen hat, die Wahl zu gewinnen.

Alle Umfragen sehen die Union mit rund zehn Prozentpunkten Abstand als stärkste Kraft. Die prognostizierten 32 Prozent der Wählerstimmen sind zwar für CDU und CSU eine mittlere Katastrophe, weil vom Selbstverständnis her dann doch nur Werte jenseits der 40-Prozent-Marke ein gutes Ergebnis sind. Aber das ist in einem zukünftigen Sieben-Parteien-Bundestag wohl nicht mehr machbar. Mit den Schmuddelkindern von der AfD geht’s nicht, mit der FDP reicht’s nicht, Rot-Rot-Grün ist ohne Mehrheit. Bleibt die große Koalition – und in der stellt auch die größte Fraktion den Kanzler, die Kanzlerin.

… die „Merkel-muss-weg“-Rufer sonst gewonnen hätten.

„Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt.“ So steht es in Artikel 63, Grundgesetz. Der Bundeskanzler wird nicht von einer Minderheit, die auf den Straßen der Republik am lautesten brüllt, gewählt. Das steht zwar nicht im Grundgesetz, gehört aber zu den allgemein akzeptierten Gepflogenheiten einer anständigen Demokratie.

… es Politikern eh nur selten gelingt, den richtigen Zeitpunkt zum Abtritt zu finden.

Letztendlich braucht es dieses Gefühl bei Politikern auch nicht. Dafür ist der Souverän da. Wenn Politiker es nicht begreifen, macht es der Wähler dem Politiker begreifbar. Helmut Kohl, der es nach 16 Jahren im Kanzleramt nach eigener Aussage 1998 „noch mal wissen wollte“, weiß es jetzt. Aber bis zum Kohl-Zeitpunkt hat Merkel noch vier Jahre Zeit.

Sie tritt nicht an, weil …

… die Flüchtlingskrise inzwischen in halbwegs geordneten Bahnen verläuft und innenpolitisch vieles erledigt ist.

Nicht mal eine Million Flüchtlinge sind in der aktuellen Krise nach Deutschland gekommen – das haben wir geschafft. Der Arbeitsmarkt boomt, der Haushalt kommt ohne neue Schulden aus. Die verbliebenen Kleinigkeiten kann der Nachfolger erledigen.

… sie damit die Union endgültig zu einem Kanzlerwahlverein machen würde.

„Alternativlos“ ist ein Wort, das Merkel berühmt gemacht hat. Das war schon zu Adenauer- und Kohl-Zeiten so. Gefühlt immer derselbe Kanzler, keine Wahlmöglichkeiten, keine Kampfkandidaturen. Das hört jetzt auf. Auf dem Parteitag bewerben sich Wolfgang Schäuble, Ursula von der Leyen, Annegret Kramp-Karrenbauer, Roland Koch, Friedrich Merz und Lieschen Müller um den Parteivorsitz und damit um die Kanzlerkandidatur.

… sie weiß, dass eine 16-jährige Kanzlerschaft unrühmlich enden kann.

Wer wüsste es besser als sie, die Helmut Kohl nach dessen Abwahl per Brief in der „FAZ“ verabschiedet hat. Dasselbe Schicksal wird sie für sich nicht wählen. Für sie ist es attraktiver, einen Abgang zu wählen, wenn alle sie beknien, doch lieber weiterzumachen. Ein Abgang erhobenen Hauptes.

… es Umfragen gibt, die eine Mehrheit gegen eine weitere Kandidatur ausweisen.

Ein Rennen mit völlig offenem, unkalkulierbarem Ausgang? Das ist nichts für Merkel. Und die Stimmungslage ist nicht so eindeutig, wie man vielleicht denken könnte. Im April 2015 waren noch gut zwei Drittel der Deutschen mit ihrer Arbeit zufrieden. Im Februar dieses Jahres waren es nur noch 46 Prozent laut Deutschlandtrend von Infratest Dimap. Ab da begann eine kleine Berg- und Talfahrt, denn ihre Werte schwankten stark zwischen gut 60 Prozent Zufriedenheit in dem einen Monat und nur noch 45 Prozent Zufriedenheit im anderen. Auch bei der Frage, ob sie weitermachen soll, gibt es unterschiedliche Stimmungsbilder. Eine Forsa-Umfrage ergab eine Mehrheit, die sich für ein Weitermachen Merkels ausgesprochen hat. Civey, das Berliner Umfrageinstitut, mit dem der Tagesspiegel zusammenarbeitet, kommt zu einem undeutlicheren Bild. Hier haben sich 46 Prozent gegen eine erneute Kandidatur ausgesprochen, 44 dafür, zehn Prozent sind unentschlossen. Merkel ist das zu unsicher. Besser, als abgewählt zu werden, ist es, selbst abzutreten.

… der Wechsel zum Wesen der Demokratie gehört.

Angela Merkel hält sich nicht für den Mittelpunkt der Welt. Ihre Botschaft lautet häufig: Jeder ist ersetzbar. Lange Amtszeiten passen weniger zu demokratischen als vielmehr zu autokratischen Systemen, und vielleicht hat sie eine heimliche Bewunderung für beschränkte Amtszeiten wie in den USA. Ein Wechsel, egal ob an der Partei- oder der Staatsspitze, ist urdemokratisch. Und möglicherweise hat sie für sich beschlossen, dass es so weit ist – wenn es nicht doch eher unwahrscheinlich ist (siehe „Sie tritt an, weil …“).

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