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Angela Merkel und Horst Seehofer in Flüchtlingskrise: Die Politik der roten Linien ist keine Politik

Rote Linien zu ziehen, ist in Mode. Merkel beruft sich auf Luthers "Hier stehe ich und kann nicht anders", Seehofer setzt ein Ultimatum nach dem anderen. Das hilft aber nicht weiter. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Claudia Keller

Jede Woche werden neue rote Linien gezogen. Besonders gerne droht Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer mit dem Äußersten. Am 22. September hatte er der Bundeskanzlerin eine Frist gesetzt, bis zu der sie ihren Kurs in der Flüchtlingspolitik ändern sollte. Vor zwei Tagen stellte Seehofer ein neues Ultimatum: bis Allerheiligen. Falls bis dahin nichts passiere, werde er notfalls eine Verfassungsklage einreichen.

Der Politik des Ultimatums entspricht die Politik des „Hier stehe ich und kann nicht anders“. Auch diese Variante der roten Linie hat Konjunktur. Angela Merkel „schafft“ es und kann nicht anders. „Egal, ob ich gewählt werde, ich kann nicht anders“, begründete auch der Wiener Bürgermeister Michael Häupl seine Flüchtlingspolitik. Auf dem AfD-Parteitag im Juli gab auch Bernd Lucke gegenüber seinen Kritikern den Martin Luther.

Seehofer will Stärke zeigen, ist aber hilflos

„Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen“, soll der Reformator 1521 auf dem Reichstag zu Worms gesagt haben. Er wollte rechtfertigen, warum er seine ketzerische Lehre auf keinen Fall zurücknehmen könne. Historiker und Theologen sind sich längst einig, dass Luther diesen Satz so nie gesagt hat. Doch er passt einfach zu gut zu diesem katholischen Mönchlein, das unerbittlich mit sich und der Welt um die Erneuerung des Glaubens rang. Auf dem Reichstag schlotterte er noch vor Papst, Fürsten und Kaiser. Später, als er seinen Glaubenskompass wiedergefunden hatte, radikalisierte er sich. Keiner konnte ihn mehr bremsen.

„Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ hat sich tief ins kulturelle Gedächtnis der Deutschen eingegraben – von Michael Kohlhaas bis zu jener typisch deutschen Gesinnungsethik, in der es Argumente und Pragmatismus schon immer schwerer hatten als eine vermeintlich aus dem tiefsten Innern gespeiste Ideologie des Alles oder Nichts. Die Sehnsucht nach einem, der sich mit Haut und Haaren seiner Überzeugung verschreibt, koste es, was es wolle, war schon vor Jahrhunderten groß und ist es bis heute.

Die Politik der roten Linie führt zur Farce oder zur Eskalation

Martin Luther fühlte sich von den Gefahren der Hölle umstellt und befand sich auf dem Reichstag in Worms in einer politisch absolut hilflosen Situation. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als alles, was er war, woran er glaubte und was er von der Welt wusste, in die Waagschale zu werfen, um sich zu retten.

Wenn Politiker heute Luthers Ausspruch bemühen, wollen sie Willensstärke beweisen. Und zeigen dabei, wie hilflos auch sie sind. Denn die Politik der Ultimaten und roten Linien ist eigentlich gar keine Politik. Im politischen Prozess geht es darum, Handlungsspielräume zu eröffnen, Argumente auszuloten und Kompromisse zu schließen, statt Türen zuzuschlagen.

Die Politik der roten Linie führt zur Farce oder zur Eskalation. Der katholische Mönch Martin Luther wollte seine Kirche erneuern, indem er sie zu den Quellen zurückführt. Am Sonnabend erinnert daran der Reformationstag. Am Ende der Konfrontationen standen Kirchenspaltung und Glaubenskriege.

Angela Merkel und Horst Seehofer erfahren gerade, wie schwer es ist, den Luther wieder abzustreifen, ohne die Glaubwürdigkeit zu verlieren. Beide sitzen in den selbst gemachten Eskalationsspiralen fest. Ob sie in der Lächerlichkeit enden oder in der Spaltung der Koalition, ist noch nicht ausgemacht. Michael Kohlhaas wurde gerädert.

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