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Die Serie von Brandanschlägen auf bestehende oder künftige Flüchtlingsunterkünfte reißt nicht ab. In der Nacht zum Donnerstag wurde auf diesen ehemaligen Gasthof in Reichertshofen in Bayern ein Brandanschlag verübt. Hier hätten ab September Flüchtlinge leben sollen. Am Wochenende brannte es auch in einer geplanten Unterkunft in Remchingen in Baden-Württemberg. Im unterfränkischen Waldaschaff brannte ein Papiercontainer in der Garage eines Flüchtlingsheims, dort hielten sich zum Zeitpunkt des Brandes 18 Menschen auf.

© Christian Mang

Angriffe auf Flüchtlingsheime: Wer vor Flüchtlingsheimen pöbelt, ist ein Terrorist

Deutschland muss den Aggressionen, Pöbeleien und Angriffen gegen Flüchtlingsheime klarer begegnen. Denn wer Menschen, die vor dem IS, Boko Haram oder Assad geflohen sind, derart bedroht, ist nicht nur ein Fremdenfeind. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Peter von Becker

Unter der Vielzahl der Gedenktage gibt es auch den von der UN-Vollversammlung ausgerufenen Weltflüchtlingstag. Er war im Juni. Aber in Wahrheit ist jeder Tag des Jahres ein Weltflüchtlingstag. Denn rund 60 Millionen Menschen sind derzeit auf der Flucht. Das ist ungefähr die Bevölkerungszahl von Großbritannien.

Am heutigen Montag beraten mal wieder die EU-Innenminister über die europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik – und die britische Regierung wird dann ein Mal mehr auf ihrer splendid isolation beharren. Die reiche Insel sieht der Not von Zehntausenden vor allem in Italien und Griechenland gestrandeten Menschen achselzuckend zu. Während Deutschland mit etwa 400 000 Asylbewerbern in diesem Jahr rechnet, lässt David Cameron gerade ein paar tausend ins Land und faselt dennoch von Menschenrechten und christlichen Werten. Italiens Mario Renzi nennt das längst Heuchelei.

Die EU steckt in der Krise

Renzi übrigens sieht Europa inzwischen nicht allein wegen Griechenland oder der steigenden Flüchtlingswelle in einer Krise, sondern wegen der auch von Angela Merkels Deutschland verkörperten geistigen, politischen Orientierungslosigkeit. Die europäische Wertegemeinschaft verkommt da zur schieren Geldwertunion als letztem gemeinsamen Nenner der nationalen, oft populistischen Eigeninteressen.

Es gibt in dieser Krise keinen Churchill – der seine Regierung im Krieg 1940 mit einer Blut-Schweiß-und-Tränenrede begann und nach 1945 einem Kontinent in Trümmern die Idee eines vereinten, solidarischen, mutmachenden Europas vorgedacht hat. Niemand, der heute noch ein Hoffnung stiftendes europäisches Projekt hat. Warum etwa gründet die EU nicht eine Europäische Akademie für Finanzverwaltung in Athen, in der jeweils 1000 junge griechische Ökonomen, Juristen, Finanzbeamte, versehen mit einem Stipendium, in zwei Jahren praxisnahem Studium für den Aufbau einer kompetenten Verwaltung und eine effektive Steuerpraxis ausgebildet werden?

Dies wäre ein Beispiel. Stattdessen wird einem Land mit Herzinfarkt (das zu fett über seine Verhältnisse gelebt hat, aber dessen Fehlverhalten man lange unterstützt hat) nach der Operation am offenen Herzen gleich ein Marathonsprint verordnet. Oder, apropos Griechenland, nehmen wir den Hafen von Piräus, den Ausgangsort der Verbreitung von Kultur, Wissen und Werten im frühen Europa: Er soll als eine der wenigen wirklichen Einnahmequellen des maroden griechischen Staats verscherbelt werden. Vermutlich an China, das unter anderem bereits den Hafen von Neapel (auch eine griechische Gründung) besitzt. Treuhand? Oder treudoof, wenn nicht zynisch verrückt. Man lese hierzu nur mal die neapolitanischen Hafenszenen in Roberto Savianos Camorra-Buch „Gomorrha“.

Die Pöbler vor den Heimen sind keine Demonstranten, die von der Polizei noch Begleitschutz verdienen

Unser Meer, das mare nostrum Europas: ein neuer Abgrund. Damit wären wir auch wieder bei den Flüchtlingen, die aus dem Nahen (nun wirklich: nahen) Osten und aus Afrika kommen. Bundespräsident Joachim Gauck, einer der wenigen, die heute noch die Gabe der politischen Rede besitzen, hat dazu jetzt Tacheles gesprochen. Auch Europa ist das Ergebnis mehr als einer Völkerwanderung. Und in seiner „Europa- Rede“ im irischen Galway hat Gauck den Zusammenhang von Menschenrechten, Grundwerten und einer humanen Flüchtlingspolitik betont. Kurz zuvor hatte er die Attacken auf Flüchtlingsheime „widerwärtig“ genannt.

Die Sprache der schieren Techniker und Taktiker reicht hier tatsächlich nicht mehr aus. Das hat die Kanzlerin in der Begegnung mit dem Flüchtlingsmädchen Reem gerade selber erfahren. So richtig es ist, Flüchtlinge in der EU gleichmäßiger zu verteilen, Aufnahme- und Ablehnungsverfahren zu beschleunigen, Integration zu fördern und beispielsweise über eine neue Afrika-Politik der EU nachzudenken (der Grieche Sisyphos lässt grüßen), so wichtig wäre: den aggressiven Pöbeleien direkt vor den Heimen schwer traumatisierter Frauen, Männer und Kinder sowie den Brandanschlägen gegen (geplante) Unterkünfte härter, klarer zu begegnen.

Es sind keine Demonstrationen, die von der Polizei noch Begleitschutz verdienen. Neben den Branddelikten geht es hier: um Landfriedensbruch, Volksverhetzung, öffentliche Billigung von Straftaten. Taten, die man auch terroristisch nennen kann. Denn wer Menschen, die vor dem IS, vor Boko Haram oder Assad geflohen sind, in ihrer psychischen und sozialen Not derart bedroht, ist nicht nur ein bekloppter Fremdenfeind. Er übt Terror.

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