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Anhörung im Bundestag: Gealterte Contergan-Kinder wollen Gerechtigkeit

Contergan-Opfer kämpfen mit massiven Folgeschäden ihrer Fehlbildungen, sie fordern von der Politik eine angemessene Rente. 150 von ihnen sind deshalb nach Berlin gereist. Unser Autor Max Muth hat einige von ihnen getroffen.

Eine solche Versammlung hat der Bundestag noch nicht gesehen. Weit über 150 Menschen, ein Großteil davon mit verkrüppelten Armen oder Beinen, ohne Daumen, mit gelähmten Gesichtshälften, ohne Ohren - 150 Contergangeschädigte, die eine gerechte Entschädigung fordern. Anlass ist eine öffentliche Anhörung im Familienausschuss, zur Situation der Lebensbedingungen von Contergangeschädigten. Mit dem massiven Aufgebot an Geschädigten wollen die Contergan-Opfer öffentlichen Druck ausüben. Viele der Betroffenen waren dafür stundenlang mit dem Bus unterwegs, es sind Belgier, Engländer und Franzosen da. Das Reisen ist für viele Schwerstbehinderte eine Tortur. Aber das Ergebnis kann sich sehen lassen. Es ist die größte Ansammlung contergan-geschädigter Menschen, die es in Deutschland je gab.

1957 kam das Medikament Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid auf den Markt, ein angeblich ungefährliches Schlafmittel, das auch gegen Übelkeit helfen sollte. Es wurde vor allem Schwangeren empfohlen. Die Werbung zeigte idyllische Natur und beschwor einen "Augenblick voll natürlicher Harmonie". Statt Harmonie bekamen die werdenden Mütter Fehlgeburten und missgebildete Kinder. Anfangs schob man diese auf die in dieser Zeit stattfindenden Atomwaffentests. Erst 1961, nach vier Jahren, wurde Contergan als die Ursache ausgemacht und verboten.

Bianca Vogel war trotz Behinderung Leistungssportlerin – Silbermedaille bei den Paralympics im Dressurreiten, zweifache Weltmeisterin. Sie ist zudem Erzieherin. Den Sport hat sie inzwischen aufgegeben, die Schmerzen waren zu stark. Aber auch die kleinen schönen Dinge im Leben werden weniger. Vor Jahren im Urlaub hat sie einen Hund gerettet, sie wollte nie einen Hund, aber seitdem ist er ihr ans Herz gewachsen. Mit dem Hund spazieren gehen müssen aber andere. "Ich kann die langen Strecken nicht mehr laufen", sagt Vogler.

Es gibt einen genauen Zeitplan, der zeigt, wann die Mutter Contergan oder ein anderes Thalidomidhaltiges Medikament eingenommen haben muss, damit bestimmte Fehlbildungen auftreten. Wenn das Präparat zwischen dem 38. und dem 40. Tag nach der letzten Periode eingenommen wurde, sind nur die Arme betroffen. Wer das Medikament zusätzlich noch ab dem 40. Tag eingenommen hat, dessen Kind hat auch eine Fehlbildung der Beine. Das sind aber nur die augenscheinlichsten Behinderungen der 2680 noch lebenden deutschen Contergan-Opfer. Es gibt knapp 30 verschieden Fehlbildungen, die durch das Medikament der Firma Grünenthal verursacht wurden. Meistens sind aber mehrere Behinderungen kombiniert. Dazu kommen etliche Folgeschäden. 1957 wurde das Präparat zugelassen – alle Contergan Kinder von damals sind heute zwischen 55 und 59 Jahre alt.

Eine Studie der Universität Heidelberg hat in den letzten Jahren im Auftrag der Bundesregierung etwa ein Drittel der deutschen Contergan-Geschädigten erstmals umfassend untersucht. Der Andrang an Contergan-Opfern, die über ihr Leid sprechen wollten, übertraf alle Erwartungen. Deshalb führen die Heidelberger Mediziner trotz Abschlusses der Studie weiterhin Interviews. Im Januar hat die "Conterganstifung für behinderte Menschen" die Studie veröffentlicht.

"Es ist die erste Studie, die anerkennt, wie es uns geht"

Für die Opfer ist die Studie ein Meilenstein. "Es ist die erste Studie, die anerkennt, wie es uns geht", sagt Udo Herterich. Herterich ist Jahrgang 1963 und damit ein vergleichsweise spätes Opfer. Er ist einseitig taub, hat einen Herzfehler, einen Nierenschaden, kurze Beine und ihm fehlen beide Daumen. „Kurze Beine“ ist beschönigend ausgedrückt. Auf seinen Beinen kann Udo Herterich nicht laufen, sie sind stark verkürzt und fehlgebildet. Auf der Contergan-Geschädigten-Punkteskala macht das 86 von 100 möglichen Punkten. Bereits ab 45 Punkten bekommt man die Höchstrente von 1152 Euro. Herterich hat fast das Doppelte an "Schadenspunkten".  Als die Studie 2008 in Auftrag gegeben wurde, empfanden das die meisten Geschädigten als Verzögerungstaktik. "Das lief nach dem Motto: 'Euch geht’s ja gar nicht so schlecht, jetzt machen wir erstmal eine Studie'", sagt Herterich. "Die Politik hat nie damit gerechnet, dass die Studie so negativ ausfällt." Das Ergebnis sei auch der einzige Grund, warum er und die Dressurweltmeisterin Bianca Vogel jetzt vor dem Familienausschuss über die "Lebenssituation contergangeschädigter Menschen" erzählen dürfen.

In der Studie werden zehn Fallbeispiele aufgeführt, von leichten vorgeburtlichen Schädigungen bis zu extremsten Behinderungen. In allen Fällen sind die Folgeschäden erheblich - durch übermäßige Belastung von Gelenken und Extremitäten während des Lebens. Eine Folge des Selbstbestimmungs-Mantras, das das Leben der meisten Contergan-Opfer prägte. Wer sein Leben lang ohne Arme auf einem Bein stehend, mit dem anderen Bein Fenster geputzt hat, der zahlt heute die Zeche für die jahrelange Ausbeutung des eigenen Körpers. Die Contergan-Kinder wurden in der Öffentlichkeit meistens als starke, selbstständige Persönlichkeiten porträtiert. Und darauf getrimmt möglichst das ganze Leben selbstständig meistern zu können.

Viele öffentlich bekannte Contergangeschädigte berichten übereinstimmend, dass ihre Krankheit lange kein Thema für sie war: Thomas Quasthoff, der berühmte Bariton, die Dressurreiterin Bianca Vogel oder der Film-Regisseur Niko von Glasow. Die Conti-Stars - wie sie sich teilweise selbst nennen - wurden bewundert, weil sie nicht als Opfer dargestellt wurden, sondern als selbstbestimmte Menschen, als Erfolgsgeschichten. Das rächt sich heute. "Wenn man merkt, wie diese Selbstbestimmungen von Tag zu Tag weniger wird, und das 'selber können' aber das ist, worüber man sich definiert, dann hast du ein Problem", sagt die zweifache Dressurweltmeisterin Bianca Vogler. "Jeden Tag nehmen wir Abschied von einem Teil unserer Selbstständigkeit." Um die Selbstständigkeit zu wahren, brauchen die Opfer Assistenten, die ihnen bei den alltäglichen Dingen des Lebens helfen. In vielen Fällen haben das Eltern oder andere Verwandte übernommen, doch die sind inzwischen meist über 80 Jahre alt.

Film-Regisseur Niko von Glasow ist der Neffe der bekannten FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher und des Verlegers Alfred Neven DuMont. "Bis vor sieben Jahren konnte ich erfolgreich verdrängen, dass ich behindert bin", sagt Glasow. "Ich kann ja alles außer Liegestützen", pflegte er zu sagen. Glasow hatte alles in seinem Leben. Alles außer Arme. Er hat sechs Kinofilme gedreht, er hat den deutschen Filmpreis gewonnen, auf der Berlinale laufen zwei seiner Filme, er hat eine eigene Familie gegründet, er hatte immer genug Geld. "Aber in den letzten fünf Jahren ist es radikal schlechter geworden", sagt er. Jetzt nimmt er die Worte zum ersten Mal in den Mund: "Ich bin Niko von Glasow und ich bin behindert." Aber alles, was ihn einschränkt, sagt er, seien Folgeschäden seiner Missbildung.

Die Conterganrente reicht nicht im Ansatz

Diese Folgeschäden werden in der Studie der Heidelberger Mediziner detailliert aufgelistet. Für Udo Herterich aber ist das wichtigste, das die Studie den Menschen hilft, ihr eigenes Leiden zu begreifen: "Jeder der 2600 Geschädigten findet sich einem der Fallbeispiele wieder." Dabei werden auch psychologische Spätfolgen durch ungewollte Kinderlosigkeit und gestörte Sexualität berücksichtigt. Dazu kommen jede Menge körperlicher Gebrechen. Folgen, die vermieden werden hätten können, wenn man die Opfer frühzeitig angemessen unterstützt hätte. Viele leiden inzwischen unter Arthrosen und chronischen Schmerzen, ebenso viele sind von Schmerzmitteln abhängig, um ein halbwegs normales Leben führen zu können.

Die Studie gibt Empfehlungen, wie eine bedarfsgerechte Versorgung der Contergan-Opfer aussehen soll. Der Höchstsatz der Conterganrente von 1152 Euro, welche die Contergan-Stiftung derzeit auszahlt reicht dafür nicht im Ansatz. Deshalb fordern die Geschädigten jetzt von der Politik eine deutliche Erhöhung der Rente. Die Studie liefert gute Argumente, aber auch der internationale Vergleich lohnt einen Blick: In den meisten ebenfalls betroffenen Ländern erhalten Thalidomid-Opfer mindestens das Doppelte an Unterstützung, entweder vom Staat wie in Italien, oder privat wie in Schweden. In England bekommen Schwerstgeschädigte eine monatliche Rente von über 9000 Euro, das ist das achtfache der deutschen Höchstrente. "Im Kapitalismus wird Wertschätzung in Geld gemessen", sagt Regisseur Glasow. "Das heißt dann wohl, das Deutschland uns offenbar nicht so wertschätzt wie andere Länder."

Die Frage, die sich aufdrängt, ist, warum überhaupt der deutsche Staat für die Opfer des Contergan-Skandals verantwortlich sein soll. Die Firma Grünenthal, die das Medikament auf den Markt brachte gibt es auch heute noch und es geht ihr finanziell blendend. Ihr bekanntestes Produkt dürfte das Schmerzmittel Tramadol sein. Die letzten Jahre hatte das Unternehmen jeweils einen Umsatz von ca. eine Milliarde Euro. Aber mit dem Vergleich, den die Bundesregierung vor über 40 Jahren mit der Firma schloss, kaufte sich das Unternehmen von einer eventuellen Verantwortung frei. Der Vertrag schloss eventuelle Folgeschäden damals schon explizit aus.

Das Bundesverfassungsgericht stellte 1976 fest, der Staat habe die Schuldnerrolle von Grünenthal übernommen und sei verpflichtet den "Kindern" eine "dauerhafte und wirksame Hilfe" zu gewähren. Die Politik hat bereits angekündigt, ihren Teil beitragen zu wollen. Ungewöhnlich einmütig erklärten die Fraktionen man müsse den Opfern helfen. Der Koalitionsausschuss von CDU/CSU und FDP hat beschlossen, einem Antrag der Linken zuvorzukommen und von sich aus mehr Geld zur Verfügung zu stellen. 120 Millionen Euro hat der Koalitionsausschuss bewilligt. Für die Opfer kann das allerdings nur ein Anfang sein.

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