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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (AKP).

© AFP/Adem Altan

Annullierung der Wahl in Istanbul: Das System Erdogan ist gescheitert – nicht der politische Islam

Präsident Erdogan hat die Türkei zur Autokratie gemacht. Die politische Kultur des Landes war der Nährboden dafür – nicht der Islam. Ein Kommentar.

Der Versuch des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, den Wahlsieg der Opposition in Istanbul wieder zu kassieren, wird von türkischen Säkularisten als Beweis dafür gewertet, dass der politische Islam nicht mit der Demokratie vereinbar sei. Das stehe nun „endgültig und unwiderruflich“ fest, schrieb der angesehene Journalist Kadri Gürsel am Dienstag. Doch die von Gürsel zu Recht beklagte undemokratische Mentalität, die aus der Annullierung des Oppositionssieges in Istanbul spricht, hat mehr mit dem politischen System der Türkei und Erdogans autokratischen Tendenzen zu tun als mit islamistischer Programmatik.

Bei ihrer Gründung vor 18 Jahren trat Erdogans Partei AKP als eine Art muslimische CDU an, um mit islamisch inspirierten Werten innerhalb der demokratischen Ordnung den Bürgern zu dienen. Spätestens mit der Annullierung der Istanbuler Wahl hat die AKP ihre Legitimität als demokratische Partei verloren. Das einstige Vorzeigeland Türkei, das noch vor zehn Jahren als Modell einer Synthese von Islam, Demokratie und Marktwirtschaft galt, ist zu einer Autokratie geworden.

Der politische Islam kann dafür jedoch nicht haftbar gemacht werden. In der Türkei gibt es viele gläubige Muslime, die Erdogan und die AKP scharf kritisieren, weil die Regierung wichtige Grundsätze der Religion wie Solidarität und Gemeinsinn verrate. Der Islam-Experte Mustafa Akyol sagte einmal sehr treffend, das Problem mit der AKP sei nicht, dass sie zu islamisch, sondern dass sie zu türkisch sei, also zu sehr in obrigkeitsstaatlichen Traditionen verhaftet.

Ein Grund dafür, dass die AKP ihre Rolle als Reformkraft aufgegeben hat und zu einem Erdogan-Wahlverein geworden ist, liegt im türkischen Parteiengesetz. Es gibt den Vorsitzenden die fast unbeschränkte Macht und trägt damit zu einer Erstarrung bei: Loyalität zum Chef wird mit den Jahren wichtiger als programmatische Angebote. Das hängt damit zusammen, dass in der Türkei schon seit Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk eine starke Führungspersönlichkeit an der Spitze häufig als Heilsbringer verehrt statt kritisch hinterfragt wird.

Erdogan hat politische Kultur für sich genutzt

Erdogan hat diese Aspekte der politischen Kultur in seinem Land für sich ausgenutzt, so wie es andere türkische Politiker auch getan haben – er war dabei allerdings weit erfolgreicher als andere. Wegen der Schwäche der Opposition musste Erdogan zudem lange Zeit die politische Konkurrenz nicht fürchten. Das hat sich erst geändert, seitdem er sich im Wahlsieger von Istanbul, Ekrem Imamoglu, einem ernstzunehmenden Herausforderer gegenüber sieht.

Der Präsident hat mit der Zeit immer mehr Machtbefugnisse an sich gezogen. Heute hat die Machtkonzentration ein solches Ausmaß erreicht, dass wichtige Posten im Staat mit Mitgliedern aus der Präsidentenfamilie besetzt werden: Erdogans Schwiegersohn Berat Albayrak ist Finanzminister.

Wirtschaftliche Erfolge und die Stabilität der Alleinregierung der AKP in Ankara machten das System Erdogan bei vielen Türken lange Zeit populär. Heute wenden sich vor allem urbane Wähler wegen der Wirtschaftskrise und der Korruption der Regierung von der AKP ab.

Die Annullierung der Istanbuler Wahl ist die politische Bankrotterklärung dieses Systems – aber nicht mehr: Die Antwort auf die Frage, wie sich eine islamisch geprägte Politik mit der westlichen Demokratie verträgt, steht noch aus.

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