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Am Samstag trug sich Bundeskanzlerin Angela Merkel in der französischen Botschaft in Berlin ins Kondolenzbuch ein.

© dpa

Anschläge in Paris: Merkel und die Willkommenskultur in Zeiten des Terrors

Der Terror von Paris bewegt Bundeskanzlerin Angela Merkel zutiefst. Die von ihr hochgehaltene Willkommenskultur wird dadurch gefährdet. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Wenn etwas nicht geschehen durfte, dann das. So viele Opfer im Herzen Europas. So viele Opfer, die der Menschlichkeit Hohn sprechen, der "Mitmenschlichkeit", wie eine sichtlich bewegte Bundeskanzlerin nach dem Terror von Paris sagte. Die Herausforderung hat deshalb eine neue Dimension erreicht, weil sie die Europäische Union inmitten ihres Prozesses trifft, sich angesichts Tausender, die täglich kommen, eine gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik zu geben.

Angela Merkel fühlt mit François Hollande, dem französischen Staatspräsidenten, ihrem engsten Verbündeten auf diesem Kontinent. Und sie fühlt den Druck, sie, die ihrer Empathie und eigenen Menschlichkeit das erste Mal freien Raum gegeben hatte. Das Geschehen lastet auf ihr, besonders auf ihr. Denn die Bundeskanzlerin wird als diejenige angesehen, die dem steten Strom an Flüchtlingen den Weg gebahnt hat. In Europa und in Deutschland, in ihrer eigenen Partei, in der Union mit der CSU. Sie soll es richten, und da darf nichts passieren, das den ohnedies schwierigen Versuch, die Lage wieder ins relative Gleichgewicht zu bringen, noch zusätzlich erschwert.

Kommt das Fremde nahe, wächst die Unruhe

Die Menschen sind nicht erst seit den entsetzlichen Attentaten, jetzt aber erst recht verunsichert. Das Fremde, die Fremden aufzunehmen, ist so lange eher akademisch, wie es fern ist. Kommt es nahe, in die Nachbarschaft, wächst die Unruhe. Nachbarschaft ist das eigene Land, die eigene Stadt, die eigene Straße. Und die Unruhe wächst, überall, auch bei den Wohlmeinenden, sagen Politiker auf allen Ebenen. Ihre Darstellung wird gestützt von den Experten in den Nachrichtendiensten und der Polizei. Hunderttausende in zweieinhalb Monaten, jeden Tag eine kleine Stadt – die Integration kommt da nicht so schnell voran. Nicht einmal die Unterbringung geht schnell.

Die Kanzlerin hat erklärt, sie habe alles unter Kontrolle

Aber nun noch Paris. Es geschah etwas, das nicht geschehen durfte. Sind unter denen, die kommen, nicht doch auch jene, die nachher die freiheitlich-demokratische Grundordnung Europas und Deutschlands zerstören, mindestens aber beschädigen wollen – wer kann das sagen? Wenn zur Unruhe Unsicherheit hinzu kommt, wächst sie sich aus zur Angst. Und wenn sich die Angst ausbreitet ins Land hinein, dann ist die staatliche Ordnung im Herzen betroffen. Und sie kann ins Herz getroffen werden.

So gesehen hat der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder den richtigen Begriff geprägt: Zur Entscheidung des Herzens muss der Plan kommen. Das wird jetzt umso dringender. Die amtierende Bundeskanzlerin hat erklärt, sie habe weiter alles unter Kontrolle. Das kann gewiss stimmen, so weit es sie selbst betrifft. Die Lage aber stellt sich denen, die verantwortlich damit umgehen müssen, anders dar.

Angela Merkel war sichtlich bewegt

Jeden Tag kommt eine kleine Stadt – von tausenden Menschen, die auf die ihnen versprochene Mitmenschlichkeit bauen. Dass sie das dürfen, dürfen können, ist die eine Herausforderung. Die andere lautet, dass die Menschen im Land sich nicht bedroht fühlen und nicht aus einer Art psychischer Überforderung heraus überreagieren. Es werden doch nicht abwehrende, sondern noch viel mehr helfende Hände benötigt. Die Bundeskanzlerin muss gewährleisten, dass der Staat ordnet – sonst verliert sie mehr als das Vertrauen.
Angela Merkel war sichtlich bewegt. Das alles geht ihr nahe. Auch weil sie wissen wird, dass sich ihre Aufgabe noch einmal potenziert hat. Nach außen, im europäischen Rahmen, ja im weltpolitischen, und nach innen. Da müssen viele zusammenrücken, dürfen eben nicht auseinanderdriften. Im Äußeren muss sie ebensolche Kohärenz erreichen wie im Inneren. Der Schutz der Grenzen – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn – wird zur äußersten Herausforderung. Der Tag der Entscheidung naht für die Bundeskanzlerin, wann sie Grenzen setzen muss. Und welche.

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