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In der Coronakrise sollte Bildungspolitik Vorrang haben vor Identitätspolitiken, meint Caroline Fetscher.

© dpa/Nicolas Armer

Antirassismus? Gendersprache? „Cancel Culture“?: Die Linken sollten endlich für ein gerechtes Bildungssystem kämpfen

Corona verschärft Klassenunterschiede, keine Frage. Doch anstatt etwas dagegen zu tun, verbeißen sich die Linken in Identitätspolitik. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Caroline Fetscher

Auf allen Kontinenten der Erde versäumen junge Menschen während der Pandemie Millionen Stunden an Unterricht. Einige aber haben die Phase privat für einen Schub an Weiterbildung genutzt. Eltern berichten berührt, dass ihre Teenager die Webseiten von Elite-Universitäten entdecken, fasziniert von Online-Vorlesungen zu Recht, Geschichte, Physik.

Andere futtern sich als Bücherwürmer durch die elterliche Bibliothek. „Seit sie dem triezenden Mathelehrer nicht ausgesetzt ist“, freut sich eine Mutter, „hat unsere Tochter Geometrie für sich entdeckt! Ist das nicht toll?“

Ja, das ist toll. Ja, es gibt Bildungsgewinner in der Pandemie. Sie haben Chancen, aber sie sind rar. Wo sich School und Home in Fusion finden, da kann Homeschooling ein Segen sein. Bei den allermeisten verhält es sich radikal anders. Ein geschätztes Fünftel aller Schulpflichtigen nutzt die Shutdowns der Schulen wie staatlich verordnetes Schwänzen. Diese Kinder und Jugendlichen verschwinden schlicht vom Radar.

Laut einer Studie aus Belgien vom September 2020 fehlt im Schnitt mit neun Wochen Homeschooling das Wissen eines halben Schuljahrs. Corona verschärft Klassenunterschiede, keine Frage. Von der Kita bis zum Schulabschluss klafft eine Lockdown-Lücke. Deren Kosten werden bereits auf über drei Billionen Euro beziffert, so rechnet das Ifo-Institut. Und das Institut der deutschen Wirtschaft fordert deshalb „Chancenbeauftragte“ für Schulen.

Wo bleiben die Petitionen?

Da müsste an sich die Stunde der politisch Engagiertesten schlagen, denn das Kämpfen um Gerechtigkeit von Chancen war schon lange nicht mehr so brennend wichtig. Doch Demonstrationen vor dem Bildungsministerium sind nicht zu sehen. Niemand da. Petitionen mit Abertausenden Unterschriften für mehr Bildungsgerechtigkeit sind nicht zu lesen, kein Blatt. Von massenhaften Aktionsgruppen zur Hilfe beim Homeschooling ist nichts zu hören. Stille.

Dafür wird andernorts gelärmt. Laut. Ausgerechnet die Linke verbeißt sich derzeit – passioniert, verbohrt, fixiert – in Debatten um Identity Politics, Privilegien durch Hautfarben, um das Durchsetzen von Gendersprache, Israelboykotts und ähnlichen Dingen, die teils in peinlicher „Cancel Culture“ kulminieren. Ausgerechnet jetzt!

Es wird eines Tages nichts, rein gar nichts helfen, dann, wenn die Zeugnisse desaströs sind, auf den Status einer migrantischen oder anderen Minderheitenidentität zu pochen. Sonnenklar, dass das Identitätsmerkmal „erfolgreiche Abiturientin“ weitaus mehr Tore weit öffnen kann als der Hinweis auf die Zugehörigkeit zu irgendeiner Gruppe. Umso absurder wirkt der aktuelle Fokus auf Identitäten.

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Um Chances Culture statt um Cancel Culture muss es gehen. Um den Vorrang realer, wahrer und wirksamer Bildungschancen, ein gerechteres Schulsystem und Milliarden an Mitteln für alle Institutionen, in denen kommende Generationen das lernen und erfahren, was sie für ein glückliches, selbstbestimmtes Leben brauchen.

Der Philosoph Richard Rorty mahnte in einem berühmten Essay den „Vorrang der Demokratie vor der Philosophie“ an. Das bedeutet immer auch den Vorrang von Bildungschancen vor Identitätspathos, den Vorrang von Gerechtigkeit vor Selbstgerechtigkeit.

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