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Gemeinsam gegen Rassismus, das wäre auch eine gute Lehre aus der Geschichte.

© Britta Pedersen/dpa

Antisemitismus und Erinnerungspolitik: Stören Muslime die deutsche Nie-wieder-Identität?

„Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“, heißt es. Manche leiten daraus die Forderung an Migranten ab, Wertebekenntnisse abzulegen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Deutschland ist ein Rechtsstaat. Gesetze müssen befolgt, Verbrechen geahndet werden. Das gilt auch für Vergehen, die aus kulturellen oder religiösen Motiven begangen werden. Und es gilt für Einheimische ebenso wie für Migranten.

Aber muss jeder, der hier lebt, die Werte des Landes teilen, seine Sitten und Gebräuche, seine Kultur und Tradition? Nein. Keiner sollte gezwungen werden, am Vatertag mit dem Bollerwagen loszuziehen, beim Christopher-Street-Day mitzulaufen oder aufs Münchner Oktoberfest zu gehen.

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Gesetzestreue ja, kulturelle Homogenisierung nein. „Der freiheitliche Staat kann und sollte als Bedingung für den Bürgerstatus kein Wertebekenntnis verlangen“, hat der große europäische, katholische Rechtsgelehrte Ernst-Wolfgang Böckenförde gesagt.

Also spricht Armin Laschet, Kanzlerkandidat der Union: Jeder deutsche Bürger, „ob er eingewandert ist, hier geboren oder eingebürgert wurde“, sei der historisch gewachsenen Verantwortung Deutschlands für Israel verpflichtet.

Also spricht Ralph Brinkhaus, Fraktionschef der Union: „Wir müssen uns fragen, wenn Menschen zu uns kommen, inwieweit wir einfordern können, dass sie unsere Werte teilen. Denn zu unseren Werten gehört auch der Schutz jüdischen Lebens.“ Wer das nicht achte, habe sein Gastrecht verwirkt.

Sicherheit Israels ein Teil der deutschen Staatsräson

Also spricht Jörg Radek, der Vizechef der Polizeigewerkschaft: „Wer Israel das Existenzrecht abspricht, verstößt gegen unsere Werte.“ Wer in Deutschland das Gastrecht genieße und es missbrauche, „muss mit Konsequenzen rechnen, bei Flüchtlingen bis hin zu einer Abschiebung“. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Sicherheit Israels einst einen Teil der deutschen Staatsräson genannt.

Man merkt die Absicht und ist, weiß Gott, nicht verstimmt. Seit dem Wiederaufflammen des Nahostkonfliktes - mit tausendfachem Raketenbeschuss der militanten Hamas-Miliz aus dem Gazastreifen und gewohnt harter Reaktion Israels – ist es bei Demonstrationen in Deutschland zu antisemitischen Ausschreitungen und Gewalttaten gekommen. Dass dagegen mit den Mitteln des Strafrechts vorgegangen wird, sollte selbstverständlich sein, ist es aber leider nicht in dem Maße, wie es möglich und nötig wäre.

Der Zentralrat der Muslime in Deutschland und der Moscheeverband Ditib verurteilten die Angriffe gegen Juden. „Wer Rassismus beklagt, selbst aber antisemitischen Hass verbreitet, hat alles verwirkt“, hieß es auf Twitter. „Wer angeblich Israelkritik üben will, dann aber Synagogen und Juden angreift, greift uns alle an.“ Weil diese Stellungnahme indes in eine Zeit fiel, in der ausgiebig über muslimischen Antisemitismus debattiert wurde, ging sie etwas unter. Schließlich haben solche Debatten in Deutschland oft auch eine entlastende Funktion.

Das Gebot des „Nie wieder“ hat großes moralisches Gewicht

Nun verbietet sich jeder unmittelbare Vergleich zwischen Vatertag, CSD und Oktoberfest einerseits und den Lehren aus Auschwitz andererseits. Das Gebot des „Nie wieder“ hat großes moralisches Gewicht und ist zu einem starken identitätsstiftenden Faktor geworden.

„Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“, hat der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck gesagt. Und Joschka Fischer konstatierte: „Alle Demokratien haben eine Basis, einen Boden. Für Frankreich ist das 1789. Für die USA die Unabhängigkeitserklärung. Für Spanien der Spanische Bürgerkrieg. Nun, für Deutschland ist das Auschwitz. Das kann nur Auschwitz sein.“

Demnach bilden die Lehren aus Auschwitz das ins Positive gedrehte Fundament deutscher Identität. Wer sie nicht teilt, gehört nicht dazu. Insbesondere Migranten, die keinen familiengeschichtlichen Bezug zum Holocaust haben und denen jeder biographische Bezug zum Holocaust fehlt, laufen Gefahr, als „erinnerungspolitischer Störfall“ wahrgenommen zu werden, wie es der Orientalist Navid Kermani ausdrückt.

Eintrittskarte in den geläuterten deutschen Volkskörper

Wenn allerdings deutsche Identität, deutsches Wesen, dermaßen eng mit deutscher Vergangenheitsaufarbeitung verknüpft wird, verwandelt sich unheilvoll die Begründung für die Pflicht, den Antisemitismus zu bekämpfen.

Aus dem allgemeinen humanitären Gebot wird ein partikulares Interesse zur Aufrechterhaltung der eigenen Befindlichkeit als Schicksalsgemeinschaft. Das von Migranten verlangte Bekenntnis zum „Nie wieder“ soll auch als Eintrittskarte in den geläuterten deutschen Volkskörper dienen.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass überwiegend konservative Politiker und Medien den argumentativen Bogen vom Antisemitismus über Migration zu deutschen Werten spannen. Es klingt wie ein aufrechtes Einstehen gegen israelbezogenen Antisemitismus, dient aber oft ganz anderen Zwecken. Wertebekenntnisse als Integrationsleistung zu fordern, ohne die ein Deutschsein unmöglich sei, wird eben schnell als Drohung verstanden – und soll es wohl auch.

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