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Arabischer Herbst?: Ägyptens halbe Revolution

Rücktritt der Übergangsregierung, mehr als 30 Tote bei Protestdemonstrationen: Die Wut der Menschen in Kairo ist grenzenlos. Denn von der versprochenen Demokratie ist Ägypten noch immer weit entfernt.

Ahmed H. schreibt sich ein paar Zahlen auf seinen linken Arm. Er steht in Kairo auf dem Tahrir-Platz, umringt von Freunden, hat einen Mundschutz um das Gesicht gebunden, damit das Tränengas nicht in die Lunge drückt. Die Zahlen sind die Telefonnummer seiner Mutter. „Ich will sichergehen, dass meine Familie gleich informiert wird, falls ich sterbe“, sagt Ahmed.

Viel Blut ist in den letzten drei Tagen auf dem Tahrir-Platz geflossen. Polizei und Militär liefern sich Straßenschlachten mit den Demonstranten, gehen brutal gegen sie vor. Ohne Gnade knüppeln sie nieder, feuern Gummigeschosse auf die Protestierer, die wehren sich mit Steinen. Die Zahlen von Toten und Verletzten überschlagen sich, mindestens 33 sollen in den letzten drei Tagen ihr Leben auf dem Tahrir gelassen haben, über 1000 wurden verletzt. Brutalität, wie sie Ägypten nicht einmal während der Revolution am Anfang des Jahres gesehen hat.

Dabei hatte alles friedlich angefangen. Am vergangenen Freitag sind über 50 000 Menschen auf dem Tahrir-Platz zusammengekommen, um gegen den Militärrat zu demonstrieren. Sie forderten, nach den für kommenden Montag vorgesehen Parlamentswahlen schnellstmöglich auch die Wahl eines Präsidenten abzuhalten und die Übergabe der Macht an eine zivile Regierung einzuleiten. Außerdem fordern sie den Rückzug eines Verfassungsentwurfs, der dem Militär langfristig die Macht im Land sichert.

Am Freitagabend haben dann an die 200 Demonstranten auf dem Platz Zelte aufgeschlagen, wollten so lange bleiben, bis die Forderungen erfüllt sind. Doch das Sit-in wurde am Samstagmittag gewaltsam von der Polizei angegriffen, seitdem ist der Tahrir-Platz ein umkämpftes Gebiet. Drei Tage lang Straßenschlachten, drei Tage lang pure Gewalt.

Mitten im Gefecht ist Ahmed. Er ist groß, trägt einen kurzen Stoppelbart, und wenn er redet, gestikuliert er wild mit den Händen. Er ist 23, hat Politik in Kairo studiert, arbeitet nun bei einer Menschenrechtsorganisation. „Wir müssen Ägypten wachrütteln“, sagt er, „wir brauchen dringend eine zweite Revolution.“

Dass die Ägypter einen zweiten Aufstand schaffen, daran glaubt er fest. „Die Stimmung hier ist wie am 25. Januar dieses Jahres“, sagt er. Der Tag, an dem der Arabische Frühling in Ägypten begann. „Wir sind endlich wieder vereinigt, wir stehen alle zusammen.“

Lesen Sie auf Seite 2: Die Brutalität von Polizei und Militär ist größer als zu Beginn der Proteste.

Der Tahrir-Platz ist gefüllt mit Ägyptern unterschiedlicher Gesinnung. Da betet ein alter Salafist mit blauer Galabia, dem traditionellen ägyptischen Gewand, sein Mittagsgebet neben einem jungen Studenten in Jeans und Turnschuhen. Egal ob Muslim oder Christ, Mann oder Frau, Salafist oder Liberaler, der Tahrir-Platz vereint sie wieder mit einem Ziel: dem Sturz des Regimes.

Doch für die zweite Revolution fehlen auf dem Tahrir-Platz die Massen. Ein Großteil der Bevölkerung ist es mittlerweile leid zu demonstrieren. „Wir können es schaffen, sie wieder zu mobilisieren“, glaubt Ahmed, „wenn es noch blutiger wird, kommen sie zurück auf die Straße.“ Mehr Blut, mehr Wut, mehr Menschen – das ist seine Rechnung.

Ägypten befindet sich in diesen Tagen an einem entscheidenden Wendepunkt. Gelingt eine zweite Revolution, dann könnte der Militärrat, der seit dem Sturz des Präsidenten Mubarak das Sagen hat, gezwungen sein, seine Macht abzugeben. Können die Demonstranten aber nicht noch weiteren Protest mobilisieren, wird der Aufstand brutal niedergeknüppelt werden. Die demokratische Entwicklung des Landes stünde dann auf dem Spiel.

Rana Gaber glaubt nicht an die Auferstehung der Revolution. Auch sie ist eine Aktivistin der ersten Stunde. Rana Gaber ist 25 Jahre, klein, trägt ein buntes Kopftuch und Jeans. „Die Bevölkerung steht nicht mehr geschlossen hinter uns“, sagt sie und fragt: „Wofür haben wir denn im Januar unser Leben riskiert, wenn die Situation zehn Monate später genau die gleiche ist? Das Regime ist brutaler geworden, für uns hat sich seit der Revolution nichts zum Guten verändert.“

Nicht nur in Kairo gibt es Proteste, sie haben sich inzwischen auch auf andere Städte Ägyptens ausgebreitet. Auf Alexandria und Suez und auch auf kleinere Städte im Nildelta. Die Menschen dort zeigen sich solidarisch mit den Demonstranten vom Tahrir-Platz, protestieren gegen die Polizei. „Es ist wichtig, dass unsere Proteste sich überall ausbreiten“, sagt Alfred Raouf. Auch er ist seit drei Tagen am Tahrir-Platz. „Nur dann kann die Polizei uns nicht weiter so niederknüppeln.“

Die Wut treibt die Demonstranten an, auch Ahmed. Angst hat er keine, zumindest nicht davor, zu sterben. „Ein Leben in einer Militärdiktatur wäre schlimmer“, sagt er. Bei den Straßenschlachten ist er stets vorne mit dabei. Das war schon im Januar so. Er läuft nach vorne, wirft die Tränengasgranaten zu den Polizisten zurück, schmeißt mit Steinen. Doch dann schlägt eine Tränengasgranate direkt neben Ahmed ein. Er hustet, bekommt kaum Luft, sein Gesicht ist rot, die Augen tränen. Ein anderer Demonstrant eilt ihm zur Hilfe, stützt ihn und zerrt ihn weiter nach hinten.

Dort steht schon erste Hilfe bereit. Eine junge Frau mit Kopftuch zieht Ahmed zu sich, sprüht ihm Flüssigkeit in die Augen. Er ist nur leicht verletzt, schwerer Verletzte werden mit Motorrädern in eines der drei Feldkrankenhäuser gebracht. Sie sind überfüllt, es fehlt an Medikamenten, an Blutspenden, an Personal. Die Verletzen liegen auf Wolldecken auf dem Boden. Manche haben Schusswunden am Bein, am Kopf. Ständig werden neue Verletzte angefahren, auf die Decken getragen. Für manche ist es bereits zu spät. Hektisch und laut geht es zu, die Situation droht zu entgleiten. Ein Arzt arbeitet schon seit zwei Tagen ohne Pause, er kann nicht mehr, wischt sich ein paar Tränen aus dem Gesicht. „Was soll ich denn noch alles machen, hört das denn nie auf?“, ruft er.

Lesen Sie auf Seite 3, warum viele Menschen auf dem Tahrir-Platz die anstehenden Wahlen für eine Farce halten.

Die Wut der Demonstranten auf den Militärrat hat sich über Monate aufgestaut. Auf die Forderungen nach Freiheit und Demokratie, mit denen die Ägypter im Januar auf die Straße gegangen sind, ist der Militärrat nicht eingegangen. Im Gegenteil. Seit Februar wurden zahlreiche Blogger und Aktivisten festgenommen, ihnen wurde vor dem Militärgericht der Prozess gemacht. Zuletzt wurde der Blogger Alaa Abd al Fatah inhaftiert, weil er sich weigerte, vor dem Militärgericht auszusagen. Rund 12 000 Menschen wurden laut Human Rights Watch seit Februar vor ein Militärtribunal gestellt. Eine unabhängige Justiz, wie sie die Revolutionäre fordern, sieht anders aus.

Während viele Revolutionäre im Gefängnis sind, sitzt die alte Garde fest im Sattel, vom Militärrat gestützt. Prozesse gegen den ehemaligen Präsidenten Mubarak und seine Getreuen werden verschleppt. Zwar hat der Militärrat den allerengsten Mitarbeitern Mubaraks jegliche politische Betätigung verboten, aber er vermochte es nicht, ehemalige Regierungsmitglieder von den Parlamentswahlen auszuschließen.

Dem Militärrat ist es auch gelungen, den Aktivisten den Rückhalt in der Bevölkerung zu entziehen. Seit Februar ist Kairo unsicher geworden. Der Militärrat hat die Polizisten nicht zurück auf die Straße geschickt, das treibt Kriminelle an. Während die Zahl von Verbrechen drastisch angestiegen ist, macht das Militär dafür die Revolutionäre verantwortlich.

Jegliche Gewalt wird den Aktivisten in die Schuhe geschoben. Sogar am blutigen Oktobersonntag, bei dem das Militär friedliche Demonstrationen der Kopten angriff, war laut Militärrat die Tahrir-Szene schuld. Auch zu den Ausschreitungen der letzten drei Tage nahm der Militärrat Stellung. Generalmajor al Fangary beschuldigte in einer Talkshow die Demonstranten, sie wollten das Rückgrat des Landes brechen, die Armee.

Doch nicht nur der Militärrat, auch die Polizisten sind auf dem Tahrir Platz verhasst. Bilder und Videos kursieren im Internet, auf denen zu sehen ist, wie Polizisten zuerst Demonstranten erschießen und dann ein paar Meter weiter entsorgen: auf einer Müllhalde. All das, während der Innenminister al Eissawy sich im Staatsfernsehen bei seinen Polizisten vom Tahrir für deren Selbstbeherrschung bedankt. Sie hätten den Einsatz von Waffen vermieden.

Die gewaltsamen Auseinandersetzungen treffen Ägypten in einer sensiblen Zeit. Das Land am Nil steht ein paar Tage vor den Wahlen, am Montag soll die erste Phase der Parlamentswahl beginnen. „Das hat das Militär absichtlich lanciert“, sagt Rana, „so können sie die Wahlen verschieben und dann noch länger an der Macht bleiben.“

Noch am Sonntag beteuerte der Militärrat, dass es keine Absichten gebe, den Wahltermin zu ändern. Am Montag wurde eine Pressekonferenz zu dem Thema Stunde um Stunde verschoben. Ob nächste Woche in Ägypten gewählt wird oder nicht, interessiert auf dem Tahrir-Platz allerdings kaum jemanden. „Dort werden ohnehin nur Marionetten gewählt“, sagt Ahmed. Marionetten wie die Regierung. Die trat am Montagabend geschlossen zurück, ein Schritt, der vom Militärrat erst abgesegnet werden muss, bevor er Gültigkeit erlangt. Und so machte auch das keinen Unterschied mehr für die Leute auf dem Tahrir. Kein Jubel, kein Tanz. Auch nach dem Rücktrittsangebot der Übergangsregierung harrten in der Nacht zum Dienstag wieder tausende Demonstranten auf dem Platz aus und forderten die Ablösung von Militärratschef, Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi.

Mit welchen Hoffnungen hatte Ministerpräsident Essam Scharaf im März seine Arbeit aufgenommen. Gestützt auf die Opposition im Land, der er selbst angehörte. Doch schnell drang der Straßenbau-Professor nicht mehr durch zu den Menschen. Seine Bereitschaft, auch ehemalige Gefolgsleute Mubaraks in sein Kabinett zu holen, diskreditierte auch ihn. Nun drohte seine Regierung zwischen dem Militärrat und den Domanstranten zerrieben zu werden.

„Auf was es jetzt wirklich ankommt, das ist unsere zweite Revolution“, wiederholt Ahmed. „Nur so können wir es schaffen, den Militärrat loszuwerden.“ Der will einen Präsidenten, der ihm an Macht ebenbürtig wäre, erst Anfang übernächsten Jahres wählen lassen. Der Kampf um Demokratie in Ägypten, so hat es den Anschein, wird nicht an der Wahlurne, sondern am Tahrir-Platz entschieden.

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