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© dpa

Arbeit: Nicht auf festem Boden

Immer mehr Menschen jobben nur noch in Teilzeit. 7,7 Millionen Arbeitnehmer sind von niedrigen Löhnen und einem erhöhten Armutsrisiko betroffen. Was das für die Gesellschaft bedeutet und was die Experten raten.

Berlin - Die Zeiten ändern sich. Arbeit zu haben ist nicht mehr normal. Die Zahlen sind bedrohlich. Teilzeitjobs, Leiharbeit, befristete und geringfügige Beschäftigungen machen ein Viertel aller Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland aus. 7,7 Millionen Arbeitnehmer sind von niedrigen Löhnen und einem im Vergleich mit Festangestellten stark erhöhten Armutsrisiko betroffen. Und die IG Metall prognostiziert eine Verfünffachung der Zahl der Leiharbeiter auf 2,5 Millionen. Was heißt das für die Zukunft?

„Das, was wir als Normalarbeitsverhältnis bezeichnen, ist möglicherweise eine historische Ausnahmeerscheinung“, sagt Hilmar Schneider, Arbeitsmarktforscher am Bonner Institut zur Zukunft der Arbeit. Schneiders Diagnose deckt sich mit den jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes: Zwischen 1998 und 2008 hat die Zahl der Menschen, die in Deutschland in „atypischen“ Beschäftigungsverhältnissen stehen, deutlich zugenommen, während immer weniger Arbeitnehmer einen „typischen“, also unbefristeten, sozialversicherungspflichtigen Arbeitsvertrag haben.

Auch der Bremer Sozialforscher Stephan Leibfried sieht in der Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse einen „stabilen Trend“ – der problematische Folgen haben könnte. Leibfried sieht die Gefahr, dass in den Innenstädten „Lebenslaufghettos“ entstehen könnten. „Wenn da nicht frühzeitig mit Bildung und anderen breitflächigen Maßnahmen herangegangen wird, herrschen bald amerikanische Verhältnisse. Dann bildet sich eine Unterschicht, die das, was sie zum Leben braucht, kaum hat – und es sich darum anders beschafft. Und da wir weit dichter aufeinanderhocken als in den USA, halten wir diese Verhältnisse erheblich schlechter aus.“

Doch diese Vision ist eher als Alarmruf zu verstehen. Denn bei aller Kritik an den Verhältnissen in Deutschland bezweifelt Leibfried, dass die atypischen Arbeitsverhältnisse in Zukunft der Normalfall sein werden. „Über 30 bis 35 Prozent wird der Anteil nicht hinausgehen“, schätzt der Forscher. „In Deutschland herrschen ja mittel- bis großbetriebliche Zustände, da braucht es den organisatorischen Zusammenhalt. Man kann auf geringfügig Beschäftigte keinen Konzern aufbauen – und auch kein mittelständisches Unternehmen.“ Das klingt beruhigend und noch nicht nach großer Apokalypse.

Einige Experten sehen sogar Vorteile in der Entwicklung hin zu einem immer flexibleren Arbeitsmarkt. Ulrich Walwei, Vizedirektor des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, weist darauf hin, dass zwar 43 Prozent aller Neueinstellungen befristete Verhältnisse sind – von denen aber knapp die Hälfte zu unbefristeten Übernahmen führt. Auch der Leiharbeit spricht Walwei eine Integrationsfunktion zu. Nicht nur für Geringqualifizierte könnten diese Jobs eine erste „Brücke“ in den Arbeitsmarkt sein. Mehr als die Hälfte der Einsteiger in die Leiharbeit komme aus der Nichtbeschäftigung, sagt der Forscher. 43 Prozent waren zuvor bis zu zwölf Monate lang arbeitslos, in Ausbildung oder in Elternzeit gewesen, gut zehn Prozent hatten sogar länger als ein Jahr keinen Job. „Wenn wir die atypische Arbeit nicht hätten“, meint Walwei, „wie fänden wir dann gerade für den harten Kern der Arbeitslosen Zugänge in die Beschäftigung?“

Diesen Blick auf die Dinge teilt Hilmar Schneider: „Wenn ein Job im Rahmen einer atypischen Beschäftigungsform genauso gut als sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis existieren könnte, dann ist das Ausbeutung“, sagt er. Wenn die Stelle aber gar nicht entstanden wäre, dann bedeute sie für die Menschen eine Verbesserung. Sie verdienten mehr Geld und hätten eine bessere Perspektive, als wenn sie arbeitslos wären. Trotzdem gibt Schneider zu: „Natürlich finde ich es nicht toll, wenn man sich mit Mitte 40 und als Vater von zwei Kindern mit einem befristeten Arbeitsverhältnis durchs Leben schlagen muss. Aber für bestimmte Bereiche und für bestimmte Arbeitnehmer gibt es eben die Alternative des sozialversicherungspflichtigen, dauerhaften Beschäftigungsverhältnisses nicht.“ Zudem weist der Forscher darauf hin, dass diese Flexibilität auch neue Arbeit schaffe. Und er sagt, dass in der Zeit, in der die atypischen Beschäftigungsverhältnisse zugenommen haben, auch das Arbeitsvolumen gewachsen ist. Tatsächlich wurden 1998 nach Angaben des „Arbeitskreises Erwerbstätigenrechnung“ 56,9 Milliarden Arbeitsstunden geleistet, 2008 waren es 57,7 Milliarden – so viel wie nie zuvor.

Sind die Statistiken also gar nicht so besorgniserregend? Arbeitsmarktexperte Walwei sieht durchaus Reformbedarf. Sein Beispiel: Noch werde nur ein geringer Teil, etwa ein Sechstel der Beschäftigten in Leiharbeit in unbefristete Verhältnisse übernommen. Als „zweite Brücke“ vom atypischen ins reguläre Arbeitsverhältnis funktioniere die Leiharbeit noch nicht. Walwei will die atypischen Beschäftigungsformen nicht einschränken – aber er will die „Brücken“ ausbauen. Er sagt, entscheidend sei, welche Perspektiven man anbiete. „Sind die Arbeitsmarktinstitutionen so aufgestellt, dass Brückeneffekte leicht erreicht werden können? Sind die Menschen auf Flexibilität vorbereitet?“ Walwei schlägt einen ganzheitlichen Ansatz vor, „mit weitgehenden Angeboten zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, zur Betreuung von Kindern und Alten – und zur ständigen Weiterqualifizierung“. Denn je kompetenter ein Arbeitnehmer sei, desto flexibler könne er sich auf dem Markt bewegen.

Die Gewerkschaften fordern als ein Instrument zur Regulierung des Arbeitsmarkts einen Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde. Die Bundesregierung hat jetzt eine prominent besetzte Kommission unter dem Vorsitz des 81-jährigen SPD-Politikers Klaus von Dohnanyi eingesetzt, um die Ausweitung von Mindestlöhnen zu prüfen. Walwei fände die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns sinnvoll – allerdings mit Maß. Er rechnet vor: „In Ordnung wäre das Äquivalent zum existenzsichernden Einkommen inklusive Wohngeld, also 4,50 Euro, plus etwa 1,50 Euro als Lohnabstand.“ Ein deutlich höherer Mindestlohn würde es für viele Geringqualifizierte schwierig machen, einen Job zu finden – „weil sie möglicherweise nicht erwirtschaften können, was ihr Arbeitsplatz kostet“. Da ist der Markt gnadenlos – und Vollbeschäftigung erscheint so fern wie nie.

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