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Überall Baustellen - aber nicht genug Leute (im Bild Arbeit an einem Kompressor in der Berliner MAN Turbo AG)

© Thomas Trutschel

Arbeitsmigration: Die Wirtschaft braucht Migranten - die Behörden mauern

Deutschlands Wirtschaft braucht dringend Arbeitskräfte. Die gäbe es auch - im Ausland. Doch die Behörden blocken.

Die Wirtschaft schlägt Alarm: Im Juli klagte die Hälfte der deutschen Unternehmen (49,7 Prozent) über fehlende Arbeitskräfte. Viele müssen deshalb ihre Geschäfte einstellen, können Aufträge nicht annehmen. Die Zahlen hat das Münchner ifo-Institut letzte Woche veröffentlicht und spricht von einem bisher nie zuvor gemessenen Wert. Die Bundesregierung hat eine Offensive zur Anwerbung im Ausland angekündigt. Aber wird sie, anders als ihre Vorgängerinnen, funktionieren? 

Wie viele Leute brauchen wir?
Deutschland schrumpft, zwar nicht seine Bevölkerung – die wächst im Gegenteil -, wohl aber die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter. Etwa 350.000 von ihnen verliert das Land Jahr für Jahr. 1,8 Millionen Stellen sind derzeit offen, und viele können aus Mangel an inländischer Manpower nicht besetzt werden. Ohne Zuwanderung, so kürzlich der Migrationsökonom Herbert Brücker in einem Gespräch beim Mediendienst Integration, würde  die Zahl derer, die einen Beruf ausüben können, in Verlauf einer Generation - nämlich bis 2060 – um ein Drittel sinken. Damit aber Migration die Verluste auffängt, müsste sich Deutschland sehr anstrengen und ganz erheblich mehr Menschen ins Land holen. 400.000 würden jährlich gebraucht, nur um die Zahl der Erwerbspersonen konstant zu halten. Will sagen: 400.000, die hier bleiben.

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Das würde, so Brücker, der an der Berliner Humboldt-Uni lehrt und die Migrationsabteilung der Forschungsinstituts IAB der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg leitet, aber bedeuten, dass 1,6 Millionen Menschen pro Jahr erst einmal kämen. Die Zahlen, so Brücker, seien “dramatisch”, sowohl was den Bedarf angeht als auch dessen mehr als dürftige Befriedigung. Auch das Fachkräfte-Einwanderungsgesetz habe “bei weitem nicht die Erwartungen erfüllt”, die die Politik mit ihm verband.

Ist Deutschland nicht attraktiv genug?
Mit der Attraktivität Deutschlands für ausländische Arbeitskräfte ist es nicht so weit her, wie es in den innerdeutschen Migrationsdebatten oft scheint. Schon vor zwei Jahren, als das Fachkräfteeinwanderungsgesetz in Kraft trat, war durch Studien bekannt: Vor allem Menschen mit ausländischen akademischen Abschlüssen haben in Deutschland weniger Berufs- und Aufstiegschancen als anderswo. In einer Untersuchung des Industriestaatenverbunds OECD und der Bertelsmann-Stiftung landete es unter den mehr als 30 hochentwickelten Ländern nur auf dem zwölften Platz. An der Spitze lagen Australien, Schweden und die Schweiz. Fachkräfte auch ohne akademischen Abschluss haben hierzulande seit je das Problem, dass ihre Qualifikationen denen gleichwertig sein müssen, die eine deutsche, möglichst duale Ausbildung verschafft. Aber das nachzuweisen, ist heikel - das duale System von Berufspraxis und Schule mit Abschluss ist weltweit einzig. Vor zehn Jahren sollte diese längst erkannte Hürde abgebaut werden; das “Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen” verschaffte erstmals allen, die hier arbeiten wollten und Qualifikationen mitbrachten, einen Anspruch darauf, dass diese Fertigkeiten geprüft wurden. Eine echte Verbesserung hat es nicht gebracht, jedenfalls keinen Durchbruch. Denn nach wie vor ist “Gleichwertigkeit” mit einem deutschen Abschluss vorgeschrieben weswegen Praktiker:innen in den Firmen fordern, es – von sicherheitsrelevanten Berufen abgesehen - dem konkreten Arbeitsalltag zu überlassen, ob ein Tischler oder eine Automechanikerin ihren Job beherrschen.

Welche weiteren Hürden stellen sich Einwanderungswilligen?

In einem Bericht für den damaligen und aktuellen Arbeitsminister Hubertus Heil ging ein Forschungsteam der Nürnberger Bundesanstalt vor zwei Jahren hart mit den deutschen Auslandsvertretungen ins Gericht: Die verweigerten vielen, die kommen wollten und in Deutschland bereits Arbeitsverträge hätten, die nötigen Visa. Der Bericht war eine Evaluation der Westbalkanregelung, des liberalsten und offenbar auch funktionstüchtigsten Werkzeugs der deutschen Arbeitsmigrationspolitik. Menschen aus Kosovo, Serbien, Albanien, Nordmazedonien, Montenegro und Bosnien können seit 2016 nach Deutschland kommen und arbeiten - ohne einen andern Nachweis als den, dass sie einen deutschen Arbeitsvertrag haben. Die Fachleute des BA-eigenen “Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung” werteten Statistiken aus, sprachen mit Arbeitgeber:innen und Behörden. Ergebnis: Es gab kaum Missbrauch etwa durch Fake-Arbeitsverträge oder Lohndumping, Angebot und Nachfrage kamen nahezu perfekt zusammen, und die Firmen waren hochzufrieden mit den motivierten und qualifizierten Neulingen vom Balkan. Problem: Es kamen zu wenige.  Ein wesentlicher Flaschenhals erwies sich als so gut wie verstopft: Die deutschen Behörden, die den Arbeitswilligen Zugang nach Deutschland verschaffen sollten. Und dies lag keineswegs nur an Personalmangel, wie es im Bericht für Minister Heil heißt: “Der Terminus Missbrauch wurde im Kontext der Westbalkanregelung von VertreterInnen des AA (und vielfach den Ausländerbehörden) ungewöhnlich breit benutzt”, heißt es dort. Die Studie zitiert unter anderem einen Mitarbeiter einer deutschen Botschaft auf dem Westbalkan mit der Einschätzung: “Wir hatten Massen an Visumsanträgen und daher auch viele Missbrauchsmomente.”  Die Bundesanstalt hatte, als sie den Ansturm vom Balkan spürte, ihr Personal aufgestockt und konnte viele Anträge rasch abarbeiten – die nun in Visa-Anträge bei den Konsulaten mündeten. Allein diese große Zahl verstärkte anscheinend dort den Verdacht auf Missbrauch.
Mehr noch: Etliche Mitarbeitende der Konsularstellen und des AA, so heißt es im Bericht, handelten wohl nicht nach dem migrationsfreundlichen Gesetz, sondern folgten ihrer persönlichen Migrationsskepsis: „Darüber hinaus deuten Äußerungen von VertreterInnen des AA darauf hin“, schreiben die Autor:innen, „dass individuelle Einstellungen gegenüber der Einwanderung von Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung restriktive Entscheidungen bei der Visavergabe beeinflusst haben. So wurde wiederholt geäußert, dass der Zuzug von Fachkräften nach Deutschland wünschenswert sei, die Zuwanderung von ArbeitnehmerInnen ohne berufliche Abschlüsse jedoch soziale Probleme verursachen könnte.“ Die Westbalkanregelung verlangt jedoch ausdrücklich keinen Berufsabschluss.

Was soll sich jetzt ändern?

Langes Warten, viel Bürokratie – am Grunddilemma der deutschen  Arbeitsmigrationspolitik haben die bisherigen Gesetze wenig ändern können. Abgeschreckt werden davon Akademiker:innen wie auch alle anderen, die Deutschland eigentlich dringend braucht: Handwerker, Pflegeprofis, aber auch Leute für Hilfstätigkeiten, die ebenso verzweifelt fehlen. Die Ampel hat das Problem mindestens erkannt und im Koalitionsvertrag vereinbart, sie werde “die Hürden bei der Anerkennung von Bildungs- und Berufsabschlüssen aus dem Ausland absenken, Bürokratie abbauen und Verfahren beschleunigen”. Deutschland brauche mehr Arbeitskräfteeinwanderung. Was im angekündigten Migrationspaket der drei Koalitionspartnerinnen konkret geplant ist, haben kürzlich Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und seine Kollegin im Innenressort, Nancy Faeser, in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt geschrieben: Fachkräfte, die über Berufserfahrung und einen Abschluss ihres Heimatlandes verfügen und in Deutschland eine Stelle in Aussicht haben, sollen sofort kommen und mit der Arbeit anfangen dürfen. Ihre Anerkennung besorgen sie sich parallel zur Arbeit, für die Kosten kommen die Firmen auf, die sie eingestellt haben. Damit wäre die kritische Zeitspanne zwischen Anwerbung und Ankommen mit einemmal auf Null verkürzt. Erwünscht sind nun auch Leute, die zwar eine Qualifikation mitbringen, aber in einem ganz andern Beruf arbeiten möchten - wenn sie dafür einen Arbeitsvertrag in Deutschland in der Tasche haben. Und die Verdienstschwelle für akademisch ausgebildetes Personal wird erneut gesenkt. Derzeit müssen sie mindestens 56.400 Euro brutto im Jahr verdienen.

Sind die Ampelpläne der richtige Weg?

Die Gesetzespläne von Faeser und Heil gehen nach allem, was die Forschung über wirksame Instrumente der Arbeitsmigration weiß, in die richtige Richtung. Die Schwierigkeiten liegen, wie oft bei Gesetzen, in der Umsetzung. Der Sachverständigenrat Integration und Migration, die Rat der Einwanderungsweisen der Bundesregierung, attestierte der deutschen Migrationsgesetzgebung schon seit ein paar Jahren ein hohes Maß an Liberalität und zahlreiche Möglichkeiten für Nicht-EU-Ausländer:innen, hier zu arbeiten. Dass sie das nicht oft genug tun, ist – wenn man den die Bilanz der Nürnberger Forscher:innen über die Westbalkan-Regelung liest – insofern ein Problem der zuständigen deutschen Behörden, speziell der Auslandsvertretungen, die sehr oft Visa auch dann verweigern, wenn die, die sie beantragen, per Gesetz ein Anrecht darauf haben. Die Ampel hat Weiterbildungen und mehr Personal angekündigt, beides – Stellen und ein verbesserter Mindset in den Konsularabteilungen – wird über den Erfolg ihrer Pläne entscheiden. Zumindest für Teil eins hapert es da noch: Nach Information des Auswärtigen Amts auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion, die dem Tagesspiegel vorliegt, haben seit Anfang 2021 lediglich drei der sechs Visa-Stellen auf dem Westbalkan mehr Stellen bekommen. Auch die Visastelle für die südliche EU-Nachbarin Tunesien, wo die Wartezeit nach Angaben des AA letztes Jahr allein für einen ersten Termin ein reichliches halbes Jahr betrugt, ging beim Personalaufwuchs leer aus.   

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