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Sammeln für den Lebensunterhalt.

© Gregor Schuster,Corbis

Armut im Alter: Allein mit den Sorgen

Er geht zur Suppenküche. Jeden Tag. Fred spart an Lebensmitteln, um über die Runden zu kommen. Ihn hat getroffen, wovor sich viele Menschen fürchten. Sie haben Angst, im Alter mittellos zu werden – selbst wenn sie ihr ganzes Leben gearbeitet haben.

Von Katrin Schulze

Sein Magen knurrt, lange und laut. Einmal, zweimal, dreimal. Es ist zwölf Uhr mittags und Fred hat immer noch nichts gegessen. Seit einer Stunde sitzt er nun schon auf einer Holzbank und wartet darauf, dass es endlich soweit ist. Dass ihm jemand den Plastikteller füllt und er seine Mahlzeit einnehmen kann. Wie jeden Tag, hier in der Suppenküche der Malteser in Berlin.

Charlottenburg. Eine ruhige Ecke nahe dem Richard-Wagner-Platz. Wer Fred finden möchte, muss durch ein altes hohes Gebäude hindurch in einen Hinterhof. Kommt man vormittags, wird er schon auf seinem Platz sitzen, auf der Holzbank vor dunkelgrau verputzten Wänden. Er wird einfach dahocken in seinem schwarzen Parka, durch seine Brille in die Gegend schauen und manchmal auch mit jemandem plaudern. Bei Regen, Kälte, Schnee. Egal. „Was soll ich denn zu Hause?“, sagt er. „Da wartet doch sowieso nichts auf mich.“ Vor allem nichts zu essen.

Fred ist 78 Jahre alt und spart sich die meisten Lebensmittel, was ihm dabei hilft, über die Runden zu kommen. 674 Euro Rente bekommt er, 300 Euro gehen für die Wohnung am Lehniner Platz weg. Ein Zimmer, Küche, Bad. „Wahrscheinlich könnte ich beim Amt noch Zuschüsse beantragen“, sagt er, nur um danach gleich den Kopf zu schütteln. Nein, das will er nicht. Lieber gibt er sich mit dem zufrieden, was er hat. Und für den Rest gibt es ja noch die Suppenküche.

Nach und nach trudeln immer mehr Menschen ein in den Charlottenburger Hinterhof. Am Ende werden es mehr als 70 Bedürftige sein, die sich anstellen und ausharren, bis sie ihr Essen bekommen. Die meisten von ihnen sind 60 Jahre und älter. Sie sind mehr geworden in den vergangenen Jahren, die Alten und Armen. Das hat Brigitte Minke beobachtet, die seit 18 Jahren im Geschäft ist, erst für die Caritas, dann für die Malteser. Zuletzt kamen sogar so viele, dass nicht mehr jeder versorgt werden konnte und die Malteser um mehr Spenden bitten mussten.

Frauen gehen anders mit dem Schicksal um

Das trifft das Gefühl vieler Menschen. Ist es nicht so, dass es immer schwerer wird im Alter? Dass immer mehr immer älter werden und es am Ende nicht reichen wird für jeden? Genau davor ist die Angst groß: mittellos zu werden und womöglich arm sterben zu müssen, auch wenn man vielleicht das ganze Leben gearbeitet hat. Aber was heißt schon arm? Nach Angaben des Statistischen Bundesamts beginnt die Armut in Deutschland bei 930 Euro im Monat. Beinahe jede zweite Rente liegt derzeit unter 700 Euro. In Städten wie Berlin ist die Armutsquote höher als andernorts.

Wenn man so will, liegt Fred also durchaus im Schnitt. Aber nur ganz selten hadert er mal mit seinem Schicksal und stellt sich die Frage, warum es gerade ihn getroffen hat, der doch sein ganzes Leben lang fleißig gewesen ist. „Ich habe schon auch depressive Phasen“, sagt er. Vor allem dann, wenn er länger alleine zu Hause bleibt und die Zeit hat, den Gedanken nachzuhängen. Meistens jedoch lässt er es deshalb so weit gar nicht kommen. Geht unter die Leute, so früh wie möglich.

War Fred um 11 Uhr noch der Einzige, der im Charlottenburger Hinterhof auf sein Mittagessen wartete, so wird die Schlange eine Stunde später länger und länger.

Als die Tür zur Essensausgabe sich schließlich öffnet, geht das Geschiebe los. Der Hunger ist groß, die Kapazitäten klein. Es dürfen nur so viele Menschen in den engen Raum, wie Stühle vorhanden sind. Erst wenn einer fertig gegessen hat, nimmt der nächste Platz. Fred weiß natürlich, wie es geht. Er ist Stammgast und sitzt als Erster auf seinem Plastikstuhl, vor einem Plastikteller und einem Plastikbecher. Tee und Gemüsesuppe gibt es heute. Und plötzlich sieht man es ganz deutlich, was vorher nur zu hören war: Fred hat Hunger. So schnell, wie er seinen Teller leer gegessen hat, kann man kaum schauen. Als ihm ein anderer Gast die Reste seines Essens anbietet, bedankt er sich artig und löffelt auch diese Suppe im Rekordtempo aus. Danach lehnt er sich zurück – und wirkt auf einmal befreiter, lockerer. Ausführlich redet er mit den anderen nun darüber, was sie so alles erlebt haben in den vergangenen Tagen.

Kontaktpflege im Alter

Das kommt Brigitte Minke bekannt vor. „Natürlich ist unser Essen für die Menschen wichtig“, sagt die Chefin der Suppenküche, „aber eigentlich geht es ihnen mehr um die Kontakte, um die Kommunikation.“ Armut im Alter macht nämlich vor allem eines: einsam. Einige versuchen, das Gefühl zu betäuben und verschlimmern es doch nur. Scheidung, Alkohol, Arbeitsplatzverlust. Von diesem Weg in die Altersarmut hat Brigitte Minke schon oft gehört. Sie, die für ihre Gäste auch ein bisschen Seelsorgerin und Lebensberaterin ist, beschreibt ihn als geradezu typisch – vor allem bei den Männern. „Frauen sind etwas flexibler“, sagt Brigitte Minke. Bei ihnen sei die Hemmschwelle wohl auch größer, fremde Hilfe anzunehmen. Sie regeln lieber alles selbst, solange es noch irgendwie geht.

Fred winkt ab, als er davon hört. Er war nie verheiratet, er trinkt nicht, er raucht nicht und er war schon gar nicht über einen längeren Zeitraum hinweg arbeitslos. Vielleicht hatte er einfach nur nicht die allerbesten Ausgangsbedingungen. Nachdem ihn seine Mutter weggeben hatte, wuchs er zunächst bei Pflegeeltern auf, die es – harmlos ausgedrückt – „nicht gut mit mir meinten“. Danach kam er ins Heim, wo es nicht viel besser wurde. Noch heute spricht er von sich als „halbem Analphabeten“, trotzdem habe er sich immer irgendwie gut durchgekämpft. Bis heute.

Der Besuch der Suppenküche gibt seinem Tag eine Struktur. Eine Form von Alltag, Routine und Halt. Gerade, weil jeder Tag gleich abläuft. Nach dem Essen, Fred hat sich noch am Spendentisch der Malteser bedient, zieht er vom Charlottenburger Hinterhof weiter in die Stadt. Unterwegs sammelt er Flaschen. Von der einen Hälfte, die er damit einnimmt, kauft er sich Kleinigkeiten. Die andere Hälfte spendet er für bedürftige Kinder. „Die brauchen es dringender als ich“, sagt Fred. „Ich bin ja im Prinzip nur in der Warteschleife und warte, bis der liebe Gott mich abholt.“ Es klingt zynischer als er es meint.

Die Scham ist groß

Einige sind aufs Flaschensammeln angewiesen.
Einige sind aufs Flaschensammeln angewiesen.

© picture alliance / blickwinkel

Fred hat seinen Frieden gemacht mit sich und seinem Leben. Nachmittags sitzt er am Wittenbergplatz oder Olivaer Platz und schaut dem täglichen Trubel zu. Manchmal, wenn er richtig gut drauf ist, spricht er die Jüngeren an und wundert sich über ihre Offenheit. „Ich freue mich, dass sie sich mit einem Alten wie mir unterhalten“, erzählt er. „Dafür muss man dankbar sein.“ Er genießt Augenblicke wie diesen, wenn er nicht ganz alleine ist. Erst wenn es dunkel wird, ist es für Fred an der Zeit, nach Hause zu gehen. Immer mit der Ruhe.

Dass Fred so offen über seinen Alltag und sein Schicksal spricht, ist nicht selbstverständlich. Die meisten Betroffenen wollen sich nicht öffentlich dazu äußern. Sie schämen sich und fürchten, dass andere die Achtung vor ihnen verlieren könnten. Sollen ja nicht die Nachbarn wissen, wie arm man wirklich dran ist!

Peter I. zum Beispiel. „Mir ist es unangenehm“, sagt er. „Ich habe mein ganzes Leben lang gearbeitet, und nun bricht der Notstand aus.“ Selbstständig war er als Maler- und Lackierermeister und steckte beinahe sein ganzes Leben lang alles, was er hatte, in die Firma: Kraft, Leidenschaft – und Geld. Am Ende ging sogar die Altersvorsorge drauf. Eigentlich hatte er sie für ein sorgenfreies Leben vorgesehen. Und nun, da er endlich Rentner ist, hat Peter I. mehr Sorgen denn je. „Noch klappt es gerade so, dass meine Frau und ich klarkommen, aber es darf nichts Unvorhergesehenes passieren“, erzählt er. Und davon, dass er nicht wüsste, wohin das noch führen soll. Ein Jahr lang würden die letzten Reserven vielleicht noch reichen.

Und dann?

Darauf weiß die Deutsche Direkthilfe so recht auch keine Antwort. Etwa 30 Menschen, denen es ähnlich geht wie Peter I., wenden sich per E-Mail mit der Bitte um Hilfe an sie, täglich. Dazu kommen noch Anrufe und Briefe. „Wir haben tatsächlich den Eindruck gewonnen, dass es immer mehr werden, die unverschuldet in die Armut rutschen“, sagt ein Sprecher. Viele seien komplett unvorbereitet und überfordert, weil sie schlicht nicht erwartet hätten, dass es sie im Alter erwischen könnte. Finanziell unterstützen kann die Organisation, die selbst auf Spenden angewiesen ist, längst nicht jeden.

Alle Ersparnisse sind weg

Peter I. aus Ludwigshafen fühlt sich oft allein gelassen – und ein wenig schuldig. Denn seiner Frau, die mit in der Firma geholfen hat, geht es nicht besser als ihm. Ihr Haus mussten die beiden auf Drängen der Bank verkaufen. Jetzt leben sie in einer kleineren Wohnung, die sie sich so eben leisten können. Von ihrem Sohn können sie keine Unterstützung erwarten; er war ebenfalls im Betrieb tätig und musste Privatinsolvenz anmelden. Hätte Peter I. vor 20 Jahren jemandem erzählt, dass es so laufen wird, hätte er ihn vermutlich für verrückt erklärt. „Niemals habe ich auch nur ansatzweise damit gerechnet“, sagt er. Wie auch?

Der Malerbetrieb war über all die Jahre prächtig gelaufen. Große Firmen gehörten zu den Auftraggebern, jedenfalls bis zur Wirtschaftskrise. Da traf es auch ihn. Nach und nach musste er Mitarbeiter entlassen, Abfindungen zahlen. Gänzlich aufgeben allerdings wollte er nicht und wenigstens noch einige Beschäftigte halten, die kurz vor dem Renteneintritt standen. Also bürgte er mit seiner Lebensversicherung. Ein Fehler, wie Peter I. heute sagt. Der Frust, der sich bei ihm deswegen in den zurückliegenden Jahren aufgebaut hat, ist nicht zu überhören. Wie es sein könne, dass er jahrzehntelang für das Wohl seiner Mitarbeiter gesorgt hätte und er selbst am Ende seines Lebens ohne alles dastünde, fragt er, ohne eine Antwort darauf zu erwarten.

Abfinden mit seinem Schicksal kann sich Peter I. im Gegensatz zu Fred nicht. Ihre Wege in die Altersarmut sind so verschieden wie ihr Umgang damit. Während Peter I. immer an seiner Firma festgehalten hat, gehört Fred zu denjenigen Menschen, die sich nach einiger Zeit im Beruf nicht mehr ausgefüllt fühlten, nicht mehr befriedigt. Er war Tischler, hat bei der Post gearbeitet, als Funker bei der Bundeswehr, am Band für einen Automobilhersteller. Doch erst im Nachtleben von Berlin wurde er, so sagt es Fred, glücklich. In einer berühmten Kiezkneipe hinterm Tresen. „Da war immer was los, jede Nacht großes Theater, große Show.“

Das ist sein Stichwort. Da strahlen die Augen hinter der Brille. Abends wieder einmal weggehen: Das wär’s, das würde er gerne mal wieder. Dafür allerdings reicht es nicht. So sitzt Fred mit zwei Humpen Kaffee vor dem Fernseher und isst etwas, das er sich von den Maltesern mitgenommen hat. Einen Apfel, ein Stück Kuchen oder ein belegtes Brot. Am nächsten Morgen geht’s wieder hin. Zur Suppenküche.

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