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Politik: Atomausstieg: Den Atomgegnern wird vorgeworfen, sie wollten den Ausstieg aus ideologischen Gründen - zu Unrecht (Gastkommentar)

Es gibt Argumente für und gegen die Nutzung der Atomkraft. Jeder darf die einen oder die anderen für gewichtiger halten.

Es gibt Argumente für und gegen die Nutzung der Atomkraft. Jeder darf die einen oder die anderen für gewichtiger halten. Aber warum meint Frau Merkel, die einen seien Ideologie, die anderen nicht?

Eigentlich müsste Angela Merkel doch wissen, was Ideologie ist. Schließlich musste sie sich, wie Millionen anderer, in Schule und FDJ mit der Ideologie des Marxismus-Leninismus berieseln lassen. Er hatte auf alles eine Antwort, auch auf die Atomenergie. Sie war eine neue Produktivkraft und also gut. Aber es kam auf die Produktionsverhältnisse an, und die waren in der DDR auch gut.

Wer den Atomausstieg auf ideologische Gründe zurückführt, muss sich fragen lassen: Was hat die Angst vor einem Tschernobyl mit Ideologie zu tun? Und grundsätzlicher: Welche der beiden Aussagen ist ideologischer: "Alles, was erfunden wird, ist gut für den Menschen und soll daher auch genutzt werden", oder: "Nicht alles, was erfunden wird, ist gut für die Menschen, also müssen wir auswählen, entscheiden, was wir nutzen wollen und was nicht"?

Die erste Aussage hat den Nachteil, dass sie unserer Erfahrung widerspricht. Weil Chemikalien wie DDT den Menschen letztlich mehr geschadet als genutzt haben, wurden sie verboten. Ein Überschall-Verkehrsflugzeug hätten die Amerikaner auch bauen können, aber sie wollten nicht, und der Kongress sagte Nein, weil bei Flügen über Land die Belästigung vieler schwerer wog als der Vorteil weniger, die noch rascher am Ziel sein wollten. - Dürfen wir eine These, die der Erfahrung widerspricht, unter Ideologieverdacht nehmen? Es muss ja nicht die Ideologie sein, mit der Frau Merkel traktiert wurde.

Im Übrigen legt Frau Merkel Wert auf ihre christlichen Wurzeln. Wer etwa die Debatte über die Gentechnik verfolgt, weiß, dass es zu den christlichen Grunderkenntnissen gehört, dass der Mensch nicht alles darf, was er kann, auch in der Technik. Warum sollen wir nicht auch unter Energieformen auswählen dürfen, uns überlegen, welche Energie die ungefährlichste, menschengerechteste ist? Keine Technik ist an sich gut oder böse, auch nicht die Atomkraft. Aber: Taugt sie für Menschen, die manchmal zerstreut, übermüdet, verzweifelt, leichtsinnig, betrunken oder aber rachsüchtig, zerstörungswütig, aggressiv, verwirrt oder todessüchtig sein können? Verlangt nicht die Atomenergie einen Menschen, den es nicht gibt und nicht geben kann? Man stelle sich vor, der Zusammenbruch der Sowjetunion hätte zu einem Bürgerkrieg geführt - und das war zeitweise nicht unwahrscheinlich. Die Leidenschaften eines Bürgerkriegs in einem Land, vollgestopft mit Atomreaktoren und Atomraketen!

Christen haben den Glauben mancher Linken an den grund-guten Menschen für Ideologie gehalten. Und ein Mann wie Willy Brandt, der in seiner Jugend diesem Glauben anhing, hat im Alter darüber gelächelt. Ist es jetzt wieder Ideologie, wenn die Linke dazugelernt hat? Oder bewegt sich Frau Merkel im geistigen Niemandsland?

Die Frage, wie wir leben wollen und wie nicht, ist die Grundfrage aller Politik. Wenn ein halbes Dutzend junger Frauen nicht mehr in Angst um ihre Kinder leben wollen, die auf dem Heimweg von der Grundschule eine belebte Straße überqueren müssen, sammeln sie Unterschriften für eine Ampel oder für Tempo dreißig. So beginnt Politik, nicht Ideologie. Wenn ein Volk nicht mehr Angst vor einem Tschernobyl haben will, wenn es stattdessen auf erneuerbare Energien setzt, dann ist das Politik, nicht Ideologie.

Von der Vorsitzenden einer großen Partei sollte man erwarten dürfen, dass sie zwischen Ideologie und Politik zu unterscheiden weiß. Man sollte ihr auch das Stammtisch-Niveau nicht durchgehen lassen, wonach Ideologie eben ist, was der Gegner denkt, während man selbst nur den gesunden Menschenverstand walten lässt.

Erhard Eppler

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