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Angela Merkel als Bundesumweltministerin im Kernkraftwerk Lubmin bei Greifswald (Archivfoto vom 20.07.1995)

© dpa

Atomenergie: Die Kernfrage

Bis vor wenigen Tagen hat die schwarz-gelbe Koalition noch jeden als Romantiker beschimpft, der an der Sicherheit deutscher Atomkraftwerke Zweifel gehegt hat. Nun kann es ihr selbst nicht schnell genug gehen mit dem Abschalten.

Von Robert Birnbaum

Von der Kreidezeit bis zum Atomzeitalter hat die Erdgeschichte 65 Millionen Jahre gebraucht. Stefan Mappus schafft den Weg zurück in nicht ganz fünf Minuten.

Mit rotem Kopf steht der baden-württembergische Ministerpräsident in einem kahlen Nebenraum der Turn- und Fechthalle in Mittelbiberach. Hinter seinem Rücken haben sie eilends noch drei Flaggen aufgebaut, fürs Fernsehbild – Europa, Deutschland, Baden-Württemberg. Aus dem angrenzenden Saal dringt erwartungsvolles Murmeln – 400 CDU-Anhänger warten auf den Wahlkampfauftritt ihres Spitzenkandidaten. Der blickt jetzt aber erst mal in die drei Kameras, die es zu der improvisierten Pressekonferenz geschafft haben. „Wir sind nicht Japan mit seinen regelmäßig stattfindenden Erdbeben, und wir sind auch nicht Tsunami gefährdet; unsere Kernkraftwerke sind sicher“, sagt Mappus. Es ist sein letzter Satz aus dem Atomzeitalter. Denn er fährt fort: „Aber das reicht nicht.“ Und dann quillt es nur so heraus zwischen den angespannten Mundwinkeln: „offene Fragen“, „Konsequenzen“, „keine Denkverbote“.

Wer erleben will, wie die Christlich-Demokratische Union Deutschlands über Nacht zur Anti-Atom-Partei geworden ist und wieso die Bundeskanzlerin sich dabei sogar auf ihren Amtseid beruft, ist an diesem trüben Sonntagnachmittag in der schwäbischen Provinz genau richtig. Keiner hat so wie Stefan Mappus für die Atomkraft gestritten. Auf keinen droht jedes seiner Worte derart zurückzufallen. Es ist noch kein Jahr her, dass Mappus von Angela Merkel den Rauswurf des Umweltministers verlangt hat, weil Norbert Röttgen die Atomlaufzeiten nicht bis ins Aschgraue verlängern wollte – „Eskapaden“ hat Mappus das genannt. In zwei Wochen muss er sich den Wählern stellen. Wähler, die seit Tagen immer schlimmere Bilder aus dem fernen Japan sehen: Explosionen in Fukushima, zerstörte Reaktorgebäude, ein hilflos besorgter japanischer Regierungssprecher.

Am Dienstagmittag sitzt Mappus an einem großen Tisch mit Angela Merkel und nickt beifällig. Im Kanzleramt sind die Ministerpräsidenten der Atomkraft- Länder zum Krisentreffen geladen, zufällig allesamt aus der Union. Merkel hat vor einem halben Jahr das schwarz-gelbe Energiekonzept inklusive Laufzeitverlängerung als „Revolution“ gepriesen. Jetzt kassiert sie die Revolution: Die sieben ältesten deutschen Atomkraftwerke werden abgeschaltet, erst mal für drei Monate. Das Moratorium vom Vortag geht ab jetzt noch über den rot-grünen Atomkonsens hinaus. Jemand will ausdrücklich von Merkel als CDU-Vorsitzender wissen, wie sie diesen  Kurswechsel begründen will. „Hier sitzt heute die Bundeskanzlerin“, gibt Merkel zurück. Und dann wiederholt sie, was vor ihr Volker Bouffier aus Hessen schon sinngemäß gesagt hat und nach ihr Horst Seehofer aus Bayern sagen wird: dass der Atomunfall in Japan eine „Zäsur“ bedeute. Dass sie die Sicherheit der Bürger über alles zu stellen mit ihrem Amtseid beschworen habe. Und dass es „vollkommen schlüssig ist, was wir hier machen“.

Darüber wird dann später noch zu reden sein. Festzuhalten ist erst mal, dass Merkel zu diesem Schluss ungefähr am Samstagabend gekommen ist. Beunruhigt war sie seit Freitag, als noch ganz am Rande der Schreckensmeldungen über Erdbeben und Tsunami Hinweise auf Probleme am Atomkraftwerk Fukushima auftauchten. Sie ist Physikerin, sie war Umweltministerin, sie weiß gut, was sich da zusammenbrauen kann.

Bis Samstagnachmittag hoffen in Berlin, in Stuttgart, in München und Wiesbaden alle, dass die High-Tech-Nation Japan den Unfall in den Griff bekommt. Dann schwenkt Merkel so schnell und radikal um wie noch nie in ihrem Leben. Am Morgen bevor Mappus in Biberach auftritt, telefonieren beide noch einmal. Aber auch der Mann, der das Stammland der CDU halten soll, sieht keine Chance mehr, die alten Gewissheiten zu verteidigen.

Andere wechseln nicht ganz so schnell auf die neue Seite. Am Montag im CDU- Präsidium schlägt Volker Kauder Krawall. Der Fraktionschef, der lange Zeit CDU-Generalsekretär in Baden-Württemberg war, grollt schon lange darüber, wie seine Partei prinzipielle Positionen über Bord gehen lässt. Und dann muss er auch noch mit anhören, wie Norbert Röttgen triumphiert! Das Verhältnis zwischen den beiden ist kaputt, seit Röttgen einmal hinterrücks versucht hat, Kauder vom Fraktionsvorsitz zu verdrängen. Dass Röttgen mit der Idee einer nur knappen Laufzeitverlängerung im „Herbst der Entscheidungen“ unterlag, war sehr wesentlich Kauders Werk. Jetzt referiert der Umweltminister im Konrad-Adenauer- Haus darüber, dass man Sicherheit ganz neu denken müsse, „keine Tabus“. Und die Parteichefin nickt dazu. Kauder widerspricht vehement, das Energiekonzept der Regierung sei weiter richtig; Bouffier meldet ebenfalls Zweifel an.

Am Dienstag im Kanzleramt nickt auch Bouffier nur noch. Auch im hessischen Biblis werden die alten Meiler A und B stillstehen. Wenig später verkündet Röttgen, dass die „Kernfrage“ jetzt laute, welche Risiken man noch hinnehmen wolle und welche „gesellschaftlich“ nicht mehr. Noch etwas später stürmt Kauder wortlos an allen Mikrofonen vorbei in die Fraktionssitzung. Drinnen trägt Merkel vor, was alle zur Kenntnis nehmen. Dann melden sich Leute zu Wort. Bundestagspräsident Norbert Lammert verlangt präzise gesetzliche Grundlagen für das Moratorium. Die anderen, die aufzeigen, kennt man nicht aus dem Fernsehen. Thomas Bareiß aus dem baden-württembergischen Albstadt zum Beispiel. Monatelang habe man das Energiekonzept verteidigt: „Jetzt wird es in kürzester Zeit geschleift.“ Oder Thomas Jarzombek aus Düsseldorf, der sagt, dass er in den 80ern aus Widerstand gegen die grünen Anti-Atomideologen in die Junge Union gegangen sei. Kauder spricht auch. Er trage das Moratorium mit, aber es gehe nicht an, dass das Ergebnis vorweggenommen werde. „Sonst melden sich hier noch andere, die bisher geschwiegen haben, zu Wort“, droht Kauder. Er ist stinksauer. Und er ist alles andere als überzeugt davon, dass die Leute da draußen im Ländle bei dieser Blitzwende ihrer CDU noch mitkommen.

Das ist auch viel verlangt. Bis vor wenigen Tagen haben die Hardliner in CDU, CSU und FDP jeden als romantisch verblendeten Ideologen beschimpft, der an der Sicherheit deutscher Atomkraftwerke irgend einen Zweifel gehegt hat. Bis vor wenigen Tagen haben selbst die grünlich Angehauchten in der Union umfassend begründen können, wieso ein Weiterbetrieb dieser Atomkraftwerke wenigstens für die nächsten Jahrzehnte vollauf verantwortbar sei.

Und auf einmal soll das alles nicht mehr wahr sein. „Japan ändert alles“, sagt Markus Söder. Der bayerische Umweltminister hat gerade dafür gesorgt, dass das Akw Isar I vom Netz geht, am besten für immer. Als der CSU- Ortsverband im nahen Landshut neulich die Abschaltung des Altreaktors verlangt hat, haben die Parteigewaltigen ihm einen Vogel gezeigt. Jetzt freilich habe sich herausgestellt, sagt der Parteichef Seehofer, „dass die Infrastruktur eines Kraftwerks – also die Stromversorgung, die Notstromversorgung, die Sicherheit vor Einbruch von Wasser – offensichtlich eine höhere Bedeutung für die Sicherheit eines Kraftwerks haben.“ Die Erkenntnis hat die Anti-Akw-Bewegung seit mehreren Jahrzehnten. Auch Söders Einsicht, dass man bei denkbaren Unfallursachen „nicht nur über Wahrscheinlichkeiten, sondern von Möglichkeiten“ reden müsse, ist höchstens für ihn eine Neuigkeit.

Am Montagabend steht Stefan Mappus in einer Turnhalle in Gaildorf. Die Halle ist groß, die Bühne ist weit weg von den Bankreihen, das Licht ist kalt, und die Lautsprecher sind zu leise gestellt. Aber das alles erklärt noch nicht, wieso die Schwaben vor ihm mit verschränkten Armen dasitzen, die meisten Gags in seiner Rede schweigend übergehen und nur hin und wieder die vorderen Reihen, wo die Parteifunktionäre platziert sind, in jähem Jubel explodieren. Mappus hält seine alte Standardrede, die grob der Linie folgt, dass es gar keinen Grund gebe, ihn abzuwählen. „Baden-Württemberg hat ein Bruttosozialprodukt wie Belgien und Luxemburg zusammen“, ruft Mappus in den Saal. Der Saal guckt überwiegend regungslos zurück.

Nur ganz zu Anfang hat Mappus das Atomthema kurz angesprochen: Dass da in Japan schreckliche Dinge passiert seien und dass man deshalb nicht zur Tagesordnung übergehen könne und dass ein Moratorium fürs Atom ganz richtig sei, wie es ja auch die Frau Bundeskanzlerin vorgeschlagen habe. Weil man nämlich auch auf die Ängste der Menschen eingehen müsse. Und dann gibt es noch einen Satz. Er versucht das Dilemma des Stefan Mappus zur Tugend zu erklären: Gerade weil er bisher so ein energischer Verfechter der Kernenergie gewesen sei, gerade deshalb also stehe er jetzt in einer besonderen Verantwortung.

Wer der Logik nicht ganz folgen kann, steht nicht allein. Vorher in Schriesheim hat ein Mann sie so zusammengefasst: „Jetzt bringt der den Satz: Ich bin dafür, dass ich dagegen bin!“ Wenn viele so denken, ist Mappus verloren. Das Manöver ist schon heikel genug. Mappus muss gegen sich selbst ankämpfen, gegen diesen Kerl, der als Typ ganz nett und sogar witzig ist, aber auch von hemdsärmeliger Härte. Er hat ja lange versucht, sich als konservativen Frontmann zu profilieren. Das muss jetzt besser alles auch vergessen werden.

Aber Mappus ist ja sogar schon verloren, wenn die Bilder vom explodierenden Atomreaktor in Japan bloß den Roten und den Grünen im Ländle neuen Auftrieb verleihen. Die Umfragen sind alle Makulatur, diese ganzen tröstlichen Stimmungsbilder, in denen die Grünen sich im Sinkflug befanden, die Roten nur schwer aufholten und die Landes-CDU sich aus dem tiefen Tal von Stuttgart 21 sachte an alte Stärke heranarbeitete. Aus dem Tal hat Heiner Geißler seine alte Partei gerettet mit dem listigen Schlichtungsverfahren. Mappus würde das am liebsten jetzt wiederholen. Und weil er ja kein echter Ideologe ist, sondern nur gelegentlich zum Raufen neigt, ist seine neue nukleare Bußfertigkeit vielleicht sogar ernst gemeint. Nur, Geißler hat Monate gebraucht, um einen Streit um einen Bahnhof zu entschärfen. Mappus hat keine zwei Wochen mehr. Knapp war diese Wahl immer. Jetzt ist sie unberechenbar.

An dem gleichen Sonntagmittag, an dem der Ministerpräsident auf einmal gegen Denkverbote ist, findet Winfried Kretschmann, dass man angesichts der Katastrophe in Japan jetzt eigentlich innehalten müsste. Aber was hilft’s, es ist Wahlkampf. Der Grünen-Spitzenkandidat steht im Saal der Gaststätte Berg in Ehingen, vor ihm Junge mit Kindern, alte Bauern, viele graumelierte Köpfe. Sie nicken wissend, als Kretschmann daran erinnert, wie vor 25 Jahren die Eltern in einem warmen Frühling die Kinder nicht mehr in den Sandkasten ließen. Tschernobyl hat eine Generation geprägt. Fukushima prägt vielleicht die nächste. „Es zeigt, dass da dauernd Dinge geschehen, die man nicht vorhersehen kann“, sagt Kretschmann. „Wir sollten aus dem Vokabular das Wort ,Restrisiko’ streichen.“

Viel mehr muss er gar nicht sagen. Kretschmann hat vor 30 Jahren die Grünen mit begründet. Er ist gegen die Atomkraft erst auf die Straße gegangen und später in die Parlamente. Und jetzt gibt ihm die CDU recht, Mappus, die Kanzlerin, alle. Die Grünen eine Dagegen-Partei? Es ist Schwarz-Gelb, das die alten Meiler abschaltet, diese Dinosaurier aus den Zeiten des VW Käfer. Schwarze und Gelbe wollen auf einmal reden, nachdenken, neu denken. Vor allem aber wollen sie von ihren alten Worten nichts mehr wissen. Draußen vor der Turnhalle voller schweigender Schwaben hängt an einer Laterne ein CDU-Wahlplakat: „Klare Linien für ein starkes Land.“ Das stammt auch noch aus dem Atomzeitalter.

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