zum Hauptinhalt

Politik: Atomkonsens: 20 Jahre lang haben die AKW-Gegner gekämpft. 32 Jahre wird der Ausstieg dauern. Aber er wird kommen.

In den Sommerferien fahren wir mit den Kindern an die Nordsee. Unterwegs werden wir einen Abstecher nach Stade machen.

In den Sommerferien fahren wir mit den Kindern an die Nordsee. Unterwegs werden wir einen Abstecher nach Stade machen. Dort steht eines der ältesten Atomkraftwerke Deutschlands. Und dann werden wir den Kindern sagen: "Schaut, das ist ein Atomkraftwerk, das ist sehr gefährlich. Wenn es kaputtgeht, dann sind wir alle tot. Aber bald wird es abgeschaltet, weil euer Papa und eure Mama jahrelang dagegen demonstriert haben. Wir haben uns wegtragen lassen in Gorleben, wir haben uns nass spritzen lassen in Brokdorf, im Winter. Später, als wir zum Demonstrieren nicht mehr so viel Zeit hatten, da haben wir stattdessen mit der Zweitstimme immer mal wieder die Grünen gewählt. Und seht, der Kampf hat sich gelohnt." Dann werden unsere Kinder zu uns aufschauen und sagen: "Häh?"

In der Tat, es ist nicht leicht zu erklären, warum jener Satz, der da am Donnerstagmorgen aus dem Faxgerät quoll, allen Restzweifeln und Restlaufzeiten zum Trotz bei vielen Menschen einen kleinen Schauer auslöste: "Die EVU nehmen zur Kenntnis, dass die Bundesregierung die Einführung eines gesetzlichen Neubauverbots für KKW (...) beabsichtigt." EVU, so nennt sich die Atomindustrie. Ihr wird in Deutschland also künftig verboten, Atomkraftwerke zu bauen, so wie es verboten ist, Autos zu klauen oder die Steuer zu hinterziehen.

Die meisten Menschen halten diese ganze Atomfrage für überholt, für ein Relikt der 70er und 80er Jahre, gewissermaßen eine politische Schlaghose, einen gebatikten Bürgerkrieg. Fangen wir also bei unserem Versuch, die Freude über die "Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen" zu erklären, bei der Zukunft an.

Vor ein paar Tagen hat die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" den Kassandra-Ruf eines Informatikers namens Bill Joy veröffentlicht. Der Amerikaner warnt dort vor den Entwicklungen der Robotik, der Gentechnik und der Nanotechnologie. Schon binnen zwanzig Jahren könne es sein, dass die Maschinen den Menschen abschaffen. Darum dürften Teile dieser Technologien nur unter strenger staatlicher Aufsicht weiter entwickelt, manches, vor allem in der Nanotechnologie, müsse ganz verboten werden.

Selbst wenn man Joy für einen Apokalyptiker hält: Ganz kann man ja nicht ausschließen, dass solche Begrenzungen notwendig sind. Sind sie auch möglich? Bis gestern galt die Idee, technischen Fortschritt zu bremsen oder das eine oder andere gar zu verbieten, als unrealistisch. Allenfalls in unbedeutenden Ländern wie Dänemark oder Österreich könne so etwas funktionieren, so lautete immer das letzte Rückzugsargument der Technikeuphoriker. Das hat sich nun geändert. Deutschland verbietet den Bau von weiteren Atomkraftwerken. Neben die Freiheit, etwas zu schaffen, tritt die Freiheit, es auch wieder sein zu lassen. Insofern trägt der Ausstieg aus der Atomenergie durchaus eine visionäre Note. Aber das nur am Rande. In Wirklichkeit ging es beim Kampf um die Atomkraft um die Vergangenheit, vor allem um die deutsche.

Die Bauern von Whyl, Gorleben oder Brokdorf hatten vor allem Angst vor Kontaminierung, sie fürchteten, dass man Trauben und Rüben, die in der Nähe eines Atomkraftwerkes oder eines Endlagers angebaut würden, nicht sehr gut verkaufen könnte, sie fürchteten um ihre Heimat. Doch mit solchem regionalen Widerstand wird die Industriegesellschaft schon fertig, die Bauern allein hätten die Atomkraft niemals zu einem solchen Großthema gemacht. Erst als die großstädtische Linke, die 68er und die ihnen folgenden Generationen hinzu kamen, wurde aus dem Bauernprotest eine Bewegung.

Was aber trieb die großstädtische Linke plötzliche aufs Land, dorthin, wo sie sonst gewohnt war, den Hort der deutschen Reaktion zu vermuten? War es die Sorge um verstrahlte Kühe? Nicht so sehr. Außerdem waren die Linken traditionell technikbegeistert. Von Marx hatten die Linken, auch Rudi Dutschke, gelernt, an den wissenschaftlich-technischen Fortschritt zu glauben. So wurden die 68er zu richtigen AKW-Gegnern: Die Militanz der Bauern überzeugte sie davon, dass es sich nicht um angepasste Spießer handeln könne. Rudi Dutschke überzeugte sich vom subversiven Geist des deutschen Bauern bei einer Reise in die Widerstandsnester von Whyl. Der Ökobarde Walter Mossmann spielte ihm die neuen Lieder auf der Gitarre vor.

Aber ein paar Gamsbart-Guerillas alleine reichten der kopflastigen Linken nicht aus. Man musste sich noch ein paar Varianten ausdenken, wie die Atomenergie an das Böse in der deutschen Geschichte angeschlossen werden konnte, an den Nationalsozialismus. Die kommunistischen Gruppen, insbesondere der "Kommunistische Bund", dem auch der heutige Umweltminister angehörte, versteifte sich auf die Theorie, die Regierung wolle vor allem waffenfähiges Plutonium herstellen, um irgendwann eine eigene Atombombe zu bauen. Das war die Idee der inneren Kontaminierung: Das ewig Deutsche drängt noch immer dahin, wo Hitler auch gern hingekommen wäre - zum Besitz der ultimativen Bombe.

Auch der kürzlich verstorbene Zukunftsforscher Robert Jungk lieferte der Linken damals unfreiwillig einen willkommenen Anknüpfungspunkt. In seinem Buch "Der Atomstaat" stellte er die These auf, dass die Sicherheitserfordernisse bei der Herstellung von Atomstrom alsbald zu einem totalitären Überwachungsstaat führen würden. Anders könne eine solch gefährliche Technologie einfach nicht kontrolliert werden. Atombombe und Atomstaat - so ließ sich die mögliche äußere Kontaminierung mit der inneren Kontaminierung, mit dem ewig Deutschen verknüpfen. Dieser Kurzschluss gab der Bewegung ihre Wucht und machte das zeitweilige Zusammengehen von militanten und gewaltfreien Gruppen erst möglich. Die AKW-Gegner halluzinierten einen Ausnahmezustand, der sie berechtigen sollte, Gesetze zu übertreten, sogar Gewalt anzuwenden. An sich ist es ja nicht sehr wahrscheinlich, dass ausgerechnet Naturschützer Menschen verletzen.

Das ist der Teil des heroischen Widerstandes, den man den Kindern nicht so leicht erzählen kann. Bei der großen Brokdorf-Demo im Winter 1980 etwa stiegen all die lieben und gewaltfreien Ökofreaks nämlich aus den Autos und sahen sich in der Gesellschaft von so genannten Autonomen, Menschen in schwarzen Klamotten, die dabei waren, ihre Zwillen mit Steinen und Stahlkugeln zu laden, um damit auf "die Bullen" zu schießen. Das war keine Auseinandersetzung mehr um die Zukunft der Energieversorgung, eher ein nachträglicher Bürgerkrieg um die deutsche Vergangenheit.

Nun, die Thesen vom Atomstaat und von der Atombombe waren falsch, und wahrscheinlich wäre der Widerstand auch irgendwann erlahmt - wenn nicht 1986 der GAU in Tschernobyl passiert wäre. Das gab der Bewegung Schwung, doch zugleich lenkte es die Aufmerksamkeit hin zum eigentlichen Argument, das sich gegen Atomkraftwerke vorbringen lässt: Sie sind sehr sicher, aber wenn sie doch havarieren, dann sind die Folgen unabsehbar. Also wurde der Widerstand zivilisiert. Es ging nur noch um Sicherheit, nicht mehr um Vergangenheit. Tschernobyl nahm das Gift aus der Kontroverse und machte so letztlich den Kompromiss von Mittwochnacht möglich.

Man kann diesen Nachruf auf die Anti-AKW-Bewegung nicht enden lassen, ohne über Lilos Stroh zu sprechen. Lilo, das ist Lilo Wollny, eine Bäuerin aus Gorleben. Als wir Großstadtkinder vor zwanzig Jahren ins Wendland kamen, da durften wir in ihrer Scheune schlafen, im Stroh. Es war eine Mischung aus Kinderlandverschickung, Zeltlager und Politik. Wir waren alle mächtig jung und mächtig nervös, schließlich taten wir etwas Illegales, als wir den Bauplatz besetzten. Aber Lilo Wollny mit ihrer bäuerlichen Resolutheit und ihren in die Hüfte gestemmten Fäusten, sie half uns drüber weg. Lilo wurde zwischendurch Bundestagsabgeordnete für die Grünen. Doch die alt gewordene Bäuerin wird den Atomkompromiss ablehnen, und sie wird dabei resigniert aus ihren dunklen Augen schauen. Denn anders als Jürgen Trittin hat sie ihren Frieden mit dem Staat nicht gemacht, weil sie gegen den nie Krieg führte. Nur wird sie sich eben nicht daran gewöhnen wollen, dass vor ihrer Haustür das Endlager nun doch gebaut wird. Das jedoch ist einer der Preise, den die AKW-Gegner für diesen Atomkompromiss bezahlen. Die Menschen in Gorleben werden weiterkämpfen, aber sie werden dabei wieder allein sein, wie vor dreißig Jahren. Nur einige Autonome werden ihnen "helfen", einige versprengte Ökologen und die, denen der Widerstand zum Beruf geworden ist. Das war es dann wohl mit dem AKW-Widerstand. Ein Erfolg?

Wir machen uns, wie gesagt, auf den Weg zur Nordsee. Die Kinder werden hinter Stade sicher einschlafen. Wir Eltern werden dann, wie so oft, über unsere Jugend im Stroh und über die Zukunft der Kinder reden. Die werden sicher irgendwann etwas gegen die Auswüchse der Gentechnologie tun. Oder sie werden Gentechnologen. Ja, das kann auch passieren.

Zur Startseite