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Politik: „Auch 2030 wird es sich lohnen zu leben“

Sozialexperte Bert Rürup fürchtet keinen Aufstand der Alten und vertraut auf längere Erwerbstätigkeit

Müssen unsere Kinder Angst vor uns und unserer Übermacht im Alter haben?

Es ist – ökonomisch wie politisch – falsch, die demografische Entwicklung als Hintergrund für eine Angstdebatte zu benutzen. Auch im gealterten Deutschland des Jahres 2030 wird es sich lohnen zu leben und durchweg auch gut leben lassen. Wer sagt, ein ökonomischer Niedergang sei unvermeidlich, ist – bestenfalls – nur ein schlechter Prophet.

Der Film „Der Aufstand der Alten“ warnt vor massenhaft verarmten Rentnern.

Der Film ist ein gut gemachter, düsterer Sciencefictionfilm, der aber – in meinen Augen – kein realistisches Bild vom Leben in Deutschland in gut zwanzig Jahren zeigt. Die weit reichenden Reformen im Bereich der Altersvorsorge werden ebenso ausgeblendet wie die Tatsache, dass wir in einer Demokratie leben. Heute beläuft sich das Durchschnittsalter der Wähler auf etwa 47 Jahre, in 20 Jahren werden es fast 55 Jahre sein. Und in einer Demokratie werden die Politiker, wenn sie gewählt werden wollen, darauf achten, dass es keine massenhafte Altersarmut gibt. Im „Aufstand der Alten“ scheint daher irgendwann vor 2020 die Demokratie in Deutschland abgeschafft worden zu sein. Auch die oft benutzte Metapher von der Zeitbombe der Demografie ist schief. Bomben pflegen mit einem lauten Knall zu explodieren. Die demografische Entwicklung ist eher mit einer Gletscherschmelze zu vergleichen. Ein Beispiel: 1970 betrug die durchschnittliche Rentenlaufzeit im Schnitt elf Jahre und heute sind es 17 Jahre. Das entspricht einer Leistungsausweitung der Rentenversicherung von über 60 Prozent, ohne dass das System zerbrochen ist. Natürlich wirft die Bevölkerungsalterung große Probleme auf, und das Allmähliche dieses Prozesses beinhaltet Risiken, nichts zu tun, weil sich scheinbar nichts ändert. Aber es gibt die Chance, sich darauf einzustellen.

Sind wir vorbereitet?

Nur teilweise und nicht in dem Sinn, dass wir uns zurücklehnen und auf die Zukunft warten könnten. Das Gesundheitssystem ist auch nach der aktuellen Reform definitiv nicht auf die anstehenden Herausforderungen eingerichtet. Im Bereich der Alterssicherung dagegen wurden die wichtigsten Schritte bereits getan, um auf die Zukunft vorbereitet zu sein. Das gesetzliche Renteneintrittsalter schrittweise auf 67 Jahre anzuheben, ist eine absolut richtige Entscheidung, bei der es um weit mehr geht, als nur den Anstieg des Rentenversicherungsbeitrags zu dämpfen.

Die Menschen verstehen diesen Schritt als kalte Rentenkürzung, der zu Massenarmut führen wird.

In Einzelfällen kann und wird dies zu einer Rentenkürzung führen. Dies ist aber nicht das Ziel. Das Ziel ist eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit, und damit verbunden ist dann nicht nur eine Erhöhung der individuellen Rentenansprüche, sondern auch ein höheres Wirtschaftswachstum, mehr Steuern, mehr Krankenkassenbeiträge etc.

Dennoch öffnet sich die Schere von armen und reichen Rentnern.

Die Spreizung des Einkommens der Älteren wird in Zukunft zunehmen, aber nicht oder nicht nur als Folge der demografischen Entwicklung. Derzeit ist in Deutschland die Altersarmut rückläufig. Insbesondere in den neuen Bundesländern und wohl auch in Berlin wird es aber in den kommenden Jahrzehnten mehr Menschen geben, die im Alter von der staatlichen Mindestsicherung leben müssen. Zum einen, weil sich die hohe Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren in die Rentenbiografien eingefressen hat und zum anderen, weil das Rentenniveau im Interesse der dauerhaften Finanzierung dieses Systems langfristig abgesenkt wird. Für private Vorsorge dürfte bei Menschen, die lange arbeitslos waren, auch nicht das Geld vorhanden sein. Ihre Alterseinkommen werden deshalb geringer sein als die derjenigen, die selten oder gar nicht arbeitslos waren und zusätzlich Vorsorge getroffen haben.

Müssen wir Abschied nehmen von unseren Vorstellungen wachsenden Wohlstandes?

Hier liegt der wahre Kern des demografischen Problems. In den kommenden 25 Jahren wird die Gesamtbevölkerung in Deutschland nur wenig schrumpfen, wohl aber wird unter den gegenwärtigen Bedingungen die Zahl der Erwerbstätigen sehr viel deutlicher zurückgehen und damit die gesamtwirtschaftliche Erwerbsquote. Wenn wir wollen, dass sich unsere Einkommen und unser Wohlstand weiter so entwickeln sollen wie in der Vergangenheit, dann werden wir die Produktivität steigern müssen. Und das wird nur über mehr Bildung, namentlich intensivere Weiterbildung, höhere Investitionen, höhere Erwerbsquoten und damit nicht zuletzt über längere Lebensarbeitszeiten gehen. Nur wenn die Lebensarbeitszeit verlängert wird und mehr Menschen länger Wertschöpfung betreiben, Steuern und Sozialbeiträge zahlen, werden die Kostensteigerungen etwa im Gesundheitssystem finanziert und das allgemeine Wohlstandsniveau gehalten werden können. Heute haben wir eine Relation der über 65-Jährigen zu den 20- bis 64-Jährigen von etwa 32 Prozent. Im Jahr 2030 wird dieser Quotient bei etwa 50 Prozent liegen. Nach der Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters liegt der Altenquotient der über 67-Jährigen zu den 20- bis 66-Jährigen dann bei etwa 42 Prozent. Das zeigt, wie wichtig die Verlängerung der Lebensarbeitszeit ist. Wer heute gegen die Anhebung des Renteneintrittsalters mit 67 polemisiert, hat nichts von den Herausforderungen der Demografie verstanden.

Die Deutschen müssen also gegen die Alterung anarbeiten?

Ja. Der Schlüssel unseres Wohlstandes liegt in der Beschäftigungsentwicklung und damit im Arbeitsmarkt. Lebenslange Weiterbildung muss für jeden Arbeitnehmer selbstverständlich werden, und jedem Begehren nach einer Verlängerung der Altersteilzeitregelung oder anderen Instrumenten der Frühverrentung muss eine Absage erteilt werden.

Wie sollen deutsche Firmen mit 60-Jährigen gegen indische Unternehmen der 30-Jährigen konkurrieren?

In vergleichbaren Industrieländern, in denen die Erwerbsquoten der älteren Arbeitnehmer deutlich höher sind als bei uns, ist die Arbeitswelt nicht inhumaner und der Rationalisierungsdruck nicht geringer. Es besteht in Deutschland leider immer noch der Irrglaube, dass Unternehmen nur mit jüngeren Belegschaften im Wettbewerb bestehen können. Dass es diese Einstellung gibt, ist nicht zuletzt das Ergebnis einer verfehlten Politik, die lange Zeit – in der irrigen Hoffnung, die Beschäftigungschancen der Jüngeren zu verbessern – Unternehmen dafür subventioniert hat, sich von älteren Arbeitnehmern zu trennen. Das Ergebnis: Hierzulande hören die Leute mit Mitte 40 auf, sich fortzubilden, und beginnen kurz nach 50, sich mental auf die Rente vorzubereiten.

Neue Lasten also für die Generation der heute 40- bis 50-Jährigen, die sich ohnehin als Verlierer der Demografie begreift?

Da ist etwas dran: Die heutigen Rentner werden von der Absenkung des Rentenniveaus nur begrenzt getroffen. Die Jungen werden trotz der Absenkung des Rentenniveaus von der damit verbundenen Dämpfung des Anstiegs der Beiträge und vor allem von der massiv geförderten kapitalgedeckten Zusatzversorgung profitieren. Die mittlere Generation aber wird die vollen Leistungsrücknahmen bei der gesetzlichen Rente hinnehmen müssen und in einer Reihe von Fällen nicht mehr die Zeit haben, diese Rücknahmen durch das durchaus generös geförderte private oder betriebliche Altersvorsorgesparen zu kompensieren.

Heute wird das umlagefinanzierte Rentensystem in Deutschland 60 Jahre alt. War dessen Einrichtung ein Fehler?

Eine Rentenreform war damals dringend erforderlich. Heute, 60 Jahre später, hat man aus Erfahrungen gelernt und würde ein mischfinanziertes System, das heißt eine Kombination aus einer umlagefinanzierten Basisversorgung für alle Erwerbstätigen und einem kapitalgedeckten Zusatzsystem etablieren. Allerdings, die breite öffentliche Kritik an der Rentenpolitik und dem missverstandenen und missverständlichen Satz von Norbert Blüm „Die Rente ist sicher“ ist nur begrenzt gerechtfertigt. Seit den frühen neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ist das Leistungsniveau der Rente – nicht zuletzt durch von Blüm eingeleiteten Reformen – mehrfach mit dem Hinweis auf die demografische Entwicklung reduziert worden. Der Fehler der Politik war, dass erst ab 2002 durch Walter Riester ein flächendeckendes kapitalgedecktes Ergänzungssystem etabliert wurde. Diese Jahre fehlen den heute 40- bis 50-Jährigen zur Vorsorge.

Weg von den Alten, hin zu den Jungen. Die Franzosen melden eine Rekordquote von zwei Geburten pro Frau. Können wir diese Marke jemals erreichen?

Das ist wohl mehr eine Frage des Wollens als des Könnens. Allerdings gibt es kein sicheres Rezept für staatliches Handeln, um die Geburtenzahlen zu erhöhen. Denn eine belastbare Theorie, die Basis einer bevölkerungsorientierten Familienpolitik sein könnte, gibt es nicht. Maßnahmen zur Entwicklung der Geburtenzahlen, die in einem Land Erfolg haben, müssen anderswo noch lange nicht im gleichen Maße wirken.

Lernen von französischer Familienpolitik führt also nicht unbedingt zum Erfolg?

Man sollte sich natürlich ansehen, was familienpolitisch erfolgreiche Länder wie Frankreich machen, und daraus lernen. Ob die gleichen Instrumente aber im eigenen Land den gleichen Erfolg haben, das weiß man nicht. Allerdings soll dies kein Argument gegen ein weiteres Engagement in der deutschen Familienpolitik sein. Dieser Bereich muss auf jeden Fall noch stärker in den Fokus deutscher Reformpolitik gerückt werden.

Von der Gedöns-Politik hin zur Bevölkerungspolitik?

Dafür stehe ich nicht. Eine bestimmte Bevölkerungszahl oder gar eine bestimmte Geburtenrate sollten keine politischen Ziele sein. Vielmehr sollten wir die Familiengründungspläne der Menschen akzeptieren und das Kinderkriegen nicht zur nationalen Aufgabe überhöhen. Heute gibt es in Deutschland sehr viel mehr Wünsche nach Kindern als realisiert werden. Machen wir es den jungen Leuten leichter, über Verbesserungen der Rahmenbedingungen ihre persönlichen Ziele bei einer Familiengründung zu verwirklichen, und kümmern wir uns mehr um die Kinder, die geboren werden.

Und wie sollten wir das tun?

Wenn Familie – und Familie ist überall dort, wo Kinder im Zentrum staatlichen Interesses stehen – und ihre Förderung als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe angesehen werden, dann muss die Finanzierung der Unterstützung der Familien wie auch ein Ausbau der flächendeckenden Ganztagsbetreuung von kleinen Kindern und Schulkindern über Steuern finanziert werden und im Vordergrund stehen. Nicht nur, weil Bildung enorm wichtig ist, sondern auch, um Müttern und Vätern zeitlichen Raum zur Erwerbstätigkeit zu geben. Familienfreundlichere Arbeitszeiten sind im Übrigen ein Ziel, dessen sich Arbeitgeber und Gewerkschaften noch zu wenig annehmen.

Krankenversicherungskosten der Kinder sollen künftig aus dem Steuersystem finanziert werden. Ist das richtig?

Absolut. Über die Sinnhaftigkeit der privaten Krankenversicherung mag man streiten können, wie man aber auch nur einen Gedanken darüber verschwenden kann, die Kinder von privat Versicherten von einer solchen steuerlichen Bezuschussung auszunehmen, ist für mich unverständlich. Diese Kinder sind doch nicht weniger wert als die Kinder gesetzlich Versicherter.

Sie selbst, Herr Rürup, haben keine eigenen Kinder. Stigmatisiert das deutliche Hinwenden von Politik und Öffentlichkeit zu Kindern die Kinderlosen?

Nein. Eine Stigmatisierung von Kinderlosen wäre auch keine sinnvolle familienpolitische Option im Vergleich zu einer familiengerechten Infrastruktur, einer familienfreundlichen Einkommensbelastung und gezielten steuerfinanzierten Transferleistungen. Das Elterngeld ist ein erster richtiger Schritt. Und ich denke, wir sollten, sobald es die fiskalischen Rahmenbedingungen erlauben, die Kinderfreundlichkeit der Einkommensteuer erhöhen – um Eltern im Vergleich zu Kinderlosen einen besseren finanziellen Ausgleich für ihre Erziehungsleistungen zu schaffen. Allerdings muss – da viele Arbeitnehmerhaushalte nur noch wenig von der Einkommensteuer belastet werden – nach Etablierung des Elterngeldes der Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen ganz oben auf der Agenda stehen.

Das Gespräch führten Antje Sirleschtov und Rainer Woratschka.

ZUR PERSON

PROFESSOR

Bert Rürup, 1943 geboren, ist der derzeit wohl einflussreichste Politikberater in Deutschland. Seinem Brotberuf in Darmstadt ist er dennoch treu geblieben. Seit 1976 lehrt er dort Finanz- und Wirtschaftspolitik.

WEISER

Rürup gehört seit sieben Jahren dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung an, dessen fünf Mitglieder die „Wirtschaftsweisen“ genannt werden. Seit März 2005 ist er deren Vorsitzender.

NAMENSGEBER

In einer nach ihm benannten Kommission erarbeitete Rürup Konzepte für die Renten- und Krankenversicherung. Obwohl SPD-Mitglied, gilt er als Vater des Unions- favorisierten Modells einer Kopfpauschale im Gesundheitswesen. Die kapitalgedeckte Basisrente – die Rürup-Rente – macht ihn weithin bekannt.

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