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Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg mit US-Präsident Joe Biden

© Reuters/Francois Mori/Pool

Auch dank US-Präsident Biden: Die Nato hat sich vom Hirntod erholt

Mit ihrem künftigen Strategiekonzept erfindet sich die Nato neu. Ökonomische und technische Überlegenheit rangieren vor dem Militärischen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Die Menschen wollen nicht nur überleben. Sie wollen leben, Spaß haben, sorglos sein. Dafür brauchen sie Sicherheit, im Kleinen wie im Großen, vor Corona wie vor Terror, Russland und China. Im Umgang mit der Pandemie treten Impfungen, Tests und Hygienekonzepte an die Stelle der Ad-hoc-Prävention. Die Freuden des Alltag kehren zurück.

Vor einer ähnlichen Aufgabe standen die Regierungschefs der westlichen Demokratien bei G-7- und Nato-Gipfel. Wie stärkt der Staat das angeknackste Grundvertrauen, dass er seinen Bürgern ein Leben in Freiheit, Demokratie und Sicherheit garantiert? Die Angriffe, die dieses Sicherheitsgefühl erschüttern, haben eine Vielfalt erreicht, die die klassische Trennung in innere und äußere Bedrohungen auflöst.

Vor 20 Jahren zwang der Angriff mit entführten Flugzeugen auf New York die Weltwirtschaft kurzzeitig in die Knie. Heute kann ein ausländischer Hackerangriff auf eine Pipelinegesellschaft wie kürzlich in den USA Millionen Menschen von der Benzinversorgung abschneiden und Chaos durch Panikkäufe an Tankstellen auslösen. Cyberkrieger können die Versorgung mit Trinkwasser, Strom, Heizenergie lahmlegen. Und wer in die Datennetze des Bundestags einbricht, kann auch Wahlen manipulieren.

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Die womöglich folgenschwersten Attacken auf das Sicherheitsgefühl der Europäer in den vergangenen Jahren kamen aber aus dem eigenen Lager: US-Präsident Donald Trump drohte, die Beistandsgarantie zu kündigen. Boris Johnson führte sein Land in den Brexit. Trump nannte die Nato obsolet, Emmanuel Macron diagnostizierte ihren Hirntod.

Der türkische Staatschefs Erdogan mit US-Präsident Joe Biden
Der türkische Staatschefs Erdogan mit US-Präsident Joe Biden

© Reuters/Pool

Auf wen und was ist überhaupt noch Verlass? Wladimir Putin zieht gewaltsam neue Grenzen, kerkert Dissidenten ein oder lässt sie umbringen. Dennoch kauft der Nato-Verbündete Türkei Waffensysteme bei ihm. Staatschef Erdogan holt sich vor dem Treffen mit Joe Biden einen Milliardenkredit in China, als wolle er die Warnung der G 7 vor solcher Abhängigkeit sabotieren. Wie will der Westen Peking angesichts solcher Alliierter eindämmen?

Von Trump zu Biden: Die Allianz fasst wieder Tritt

Auch hier brauchen die westlichen Demokratien Zeit, um von Ad-hoc-Maßnahmen gegen die neuen Gefahren zu einer systematischen Antwort zu kommen. Aktuelle Hauptbedrohungen wie Cyberwaffen und Klimawandel tauchen erst im künftigen strategischen Konzept der Nato auf. Im alten von 2010 fehlten sie noch, war Russland ein Partner und China keine strategische Herausforderung.

Dank des Wechsels von Trump zu Biden fassen Europäer und Amerikaner wieder Tritt. Vier Jahre Trump haben sie gelehrt, dass ihre Sicherheit desto größer ist, je geeinter sie agieren. Das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Partner ist die entscheidende Ressource. Die Nato ist wieder lebendig, das war beim Gipfel zu spüren.

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Wie bei Corona haben die raschen Gegenmaßnahmen auch in harten Sicherheitsfragen geholfen, Schlimmeres zu verhindern. Der Flugverkehr war kurz nach 9/11 wieder sicher. Die Sanktionen, die der Westen nach der Besetzung der Krim und der Ostukraine 2014 verhängte, haben Putin von weiteren Eroberungskriegen abgehalten. Eine Dauerlösung sind sie nicht. Biden wird mit Putin über gemeinsame Interessen reden: die Grenzen von Cyberattacken, atomare Abrüstung, das Iranabkommen.

Abzug aus Afghanistan und neue Prioritäten

Andere Reaktionen auf Angriffe haben sich als kostspielige Fehler erwiesen, etwa das militärische Eingreifen der Nato in Afghanistan nach 9/11. Die Nato beendet es nun weitgehend erfolglos und in der Sorge, dass die Taliban bald wieder die Macht übernehmen.

Zugleich nimmt nun das Konzept für die Zukunft Gestalt an. G7 und Nato definieren Sicherheitsfragen derzeit nicht in erster Linie militärisch, sondern als Frage ökonomischer, technischer und bündnispolitischer Überlegenheit. Klar doch, das Militär muss stark genug sein, um potenzielle Gegner abzuschrecken. China zählt für die Nato übrigens nicht dazu; sie will eine transatlantische Allianz bleiben.

Pekings Seidenstraße möchten die USA und Europa vor allem mit attraktiven Angeboten an Staaten begegnen, mit denen sowohl China als auch der Westen ins Geschäft kommen wollen. Und bei der Cyberabwehr wollen sie stärker mit der Privatwirtschaft kooperieren. Sicherer wird, wer die verlässlicheren Freunde hat.

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