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Politik: Auch Montag ist noch Europa

Von Albrecht Meier

Es gibt zwei Europas. Man könnte es das Sonntags-Europa und das Montags-Europa nennen. Im Sonntags- Europa werden Festreden gehalten, und dort gibt Beethovens „Ode an die Freude“ den Ton vor. Das Montags-Europa wird beherrscht vom üblichen Gefeilsche zwischen den Nationalstaaten, Agrarkompromissen und schwer verständlichen Gipfelerklärungen. Weil die Bürger vor allem das Montags-Europa erleben, fällt es ihnen manchmal schwer, das Besondere im Sonntags-Europa zu erkennen. Gestern war so ein Tag. Bei der 50-Jahr-Feier der EU wurde die „Berliner Erklärung“ unterzeichnet. Die Erklärung beginnt mit Schlagworten: Frieden, Verständigung, Wohlstand. Das hat man im Sonntags-Europa schon oft gehört. Der Bürger nimmt’s zur Kenntnis – und zappt weiter. Das sollte er aber nicht – denn gerade jetzt braucht Europa die öffentliche Unterstützung dringender denn je.

Seitdem Franzosen und Niederländer die EU-Verfassung abgelehnt haben, ist die Europäische Union in die tiefste Krise ihres Bestehens geraten. Vorbei sind die Zeiten, in denen die Bürger das europäische Einigungswerk kritiklos unterstützt haben. In dieser Situation haben die 27 Mitgliedstaaten der EU den Versuch gemacht, die Öffentlichkeit mit der „Berliner Erklärung“ neu für Europa zu gewinnen. Herausgekommen ist dabei ein Text, der das seltsame Kuddelmuddel beschreibt, das sich „Europäische Union“ nennt – allerdings weniger amüsant, als das Hans Magnus Enzensberger in seiner trefflichen Beobachtung „Ach Europa!“ gelungen ist.

Die „Berliner Erklärung“ ist ein Minimalkonsens unter den 27 EU-Staaten, nicht mehr und nicht weniger. Zahlreiche Länder, darunter Deutschland, wollen von der abgelehnten EU-Verfassung retten, was zu retten ist. Sie sehen in dem Vertragswerk eine Chance, die EU für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – Klimawandel, Terrorismus, Massenmigration – zu rüsten. Eine Minderheit unter den Mitgliedstaaten ist dagegen der Auffassung, dass man dafür keine EU-Verfassung braucht.

Heute beginnt für Angela Merkel wieder das Montags-Europa. In stiller Überzeugungsarbeit wird die Kanzlerin bis zum Ende der deutschen EU-Präsidentschaft im Juni die Skeptiker davon überzeugen müssen, dass sich ein Festhalten an der Substanz der EU-Verfassung lohnt. Mit der „Berliner Erklärung“ hat sie allerdings nur ein schwaches Druckmittel in der Hand: Zwar haben sich die Staats- und Regierungschefs in Berlin auf eine Einigung im Verfassungsstreit bis zu den nächsten Europawahlen im Jahr 2009 verpflichtet. Aber von „Verfassung“ ist keine Rede mehr. Erschwert wird Merkels Aufgabe, weil in den nächsten Monaten Tony Blair in London aus dem Amt scheidet und auch in Frankreich ein Führungswechsel bevorsteht. Angesichts des politischen Vakuums in diesen beiden wichtigen EU-Ländern wird sich die Kanzlerin in den nächsten Wochen quasi als europäische Einzelkämpferin beweisen müssen, bevor sie im Juni einen Fahrplan zur Fortsetzung des Verfassungsprozesses vorlegt.

In der „Berliner Erklärung“ steht der Satz: „Wir Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind zu unserem Glück vereint.“ Für die Verhältnisse des Sonntags-Europa ist das eine schön doppelsinnige Sentenz, weil man sie sowohl als Beschreibung des Erreichten als auch als Verpflichtung für die Zukunft lesen kann. Es wäre schon ein Erfolg, wenn die Kanzlerin etwas vom Geist dieses Satzes in das Montags-Europa retten könnte.

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