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Politik: Auch Not kennt ein Gebot

Von Harald Martenstein

Der 11. September 2001, heute vor drei Jahren, hat unser Lebensgefühl verändert. Früher hatten die Menschen Angst vor einem Atomkrieg, der die Welt mit einem Schlag auslöscht. Heute hat die Angst ein anderes Gesicht.

Erinnern wir uns an den 11. September. Worum ging es den Terroristen? Um einen Anschlag auf den „Westen“, auf das Land, die Stadt und die Bauwerke, die ihn verkörpern. Ihr Motor war Hass auf die Vermischung der Kulturen, auf Frauenrechte und sexuelle Freizügigkeit, auf religiöse Toleranz und freie Medien, mit einem Wort, Hass gegen die Freiheit. Was ist seitdem passiert? In den USA wurden mit dem Patriot Act bürgerliche Freiheiten eingeschränkt, in Guantanamo wurde ein Gefängnis gebaut, das demokratischen Prinzipien Hohn spricht und ein Krieg wurde begonnen, mit Begründungen, die vor dem 11. September niemand akzeptiert hätte. In Deutschland reden wir heute anders über Einschränkungen bei Datenschutz, Lauschangriffen und Kopftüchern, als wir es vor dem 11. September getan hätten. Wir betrachten unsere muslimischen Nachbarn mit misstrauischeren Augen, sie uns ebenfalls. Es gibt wieder ein Feindbild, bärtige Männer mit Kopfbedeckungen.

Wir müssen uns schützen. Die terroristische Gefahr ist kein Hirngespinst, sie ist real. Angst ist nützlich. Aber sie darf nicht blind oder hysterisch machen. Die Welt ist unfreier geworden seit dem 11. September 2001, das ist leider ein Erfolg der Terroristen. Sie hassen die Freiheit. Je mehr wir, aus Angst, die Freiheit einschränken, desto mehr kommen wir ihnen entgegen. Zwingen wir uns dazu, kühlen Kopf zu bewahren. Gelassenheit ist nicht Schwäche. Im Gegenteil. Wer blind um sich schlägt, ist schwach.

Neben den Bildern des 11. September stehen heute die Bilder des Massakers von Beslan. Auch Beslan, der gezielte Angriff auf Kinder, steht für ein Verbrechen ohne Beispiel. Es stimmt: Man kann nicht verhandeln mit Leuten, die fliehenden Kindern in den Rücken schießen. Es stimmt aber auch, dass wir den Terrorismus mit militärischen Mitteln allein niemals werden besiegen können. Wer glaubt, den Terrorismus irgendwo in einer Entscheidungsschlacht stellen zu können, ist ein Narr. Russland übt in Tschetschenien eine pseudodemokratisch verbrämte Kolonialherrschaft aus, dort liegt der Schlüssel zur Lösung des Problems „tschetschenischer Terrorismus“. Der russische Präsident, bestenfalls ein Halbdemokrat, versucht der Welt einzureden, dass es nur noch zwei Parteien gibt, zwei Seiten, wie einst im Kalten Krieg – auf der einen Seite die Staaten, die alle gut sind, auf der anderen Seiten die Terrororganisationen, die alle gleich zu behandeln sind, ohne Rücksicht auf die politischen Verhältnisse, die sie entstehen ließen. Aber so einfach ist das nicht.

Im Kalten Krieg hat sich der Westen bereitwillig mit autoritären Regimes verbündet. Pinochet, Somoza, Franco, jeder war recht, solange er gegen die Kommunisten war. Sollen wir diesen Fehler wiederholen? Ist uns die Pressefreiheit in Russland egal, Hauptsache, wir bilden gemeinsam das große Bündnis gegen den Terrorismus? Auch Staaten können Terror ausüben. Das bis heute ungesühnte Massaker von Peking, Platz des Himmlischen Friedens, war so ein Fall.

Am 11. September galt der Hauptangriff nicht zufällig New York, Symbol einer Freiheit, die Fanatiker für Sünde halten. Jeder Schritt hin zu rechtlosen Gefängnissen und rechtlosen Kriegen ist in Wirklichkeit ein Schritt auf die Terroristen zu. So hätten sie uns gern.

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